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Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst
in: Grenzen der Karthasis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, hrsg. von Martin Vöhler und Dirck Linck, Berlin/New York 2009, S. 199-230.
Kapitel IIa: Zwischen bildender Kunst und Theater
Die Performance-Kunst ist ein unscharf definiertes künstlerisches Genre. Weder über den historischen Beginn besteht Einigkeit noch über die Abgrenzung zu anderen künstlerischen Praktiken wie Body Art, Aktionskunst oder Happening. Gemeinsam war den in zeitlicher Nähe zueinander entstandenen, zugleich aber heterogenen künstlerischen Strömungen eine Ausdrucksform, die den Körper als Medium entdeckte und die Produktion von Kunstobjekten durch physisches, in raumzeitlicher Gegenwart sich vollziehendes Handeln ersetzte. Der Körper des Performers wurde in seiner Materialität ausgestellt und erschien zugleich als symbolischer Körper, an dem etwas sich vollzog, was auf identitätspolitische oder gesellschaftliche Verhältnisse deuten konnte. Dabei war das Verhältnis zwischen der Persona des Künstlers und seinem realen Selbst schwer zu bestimmen. Der reale und der symbolische Körper berührten sich, indem die Aktionen nicht nur repräsentiert wurden, sondern sich am konkreten Körper vollzogen. Des weiteren wurde der Austausch zwischen Künstler und Publikum auf eine gänzlich neue Grundlage gestellt. Die meisten Performances verfolgten das doppelte Ziel, die Betrachter ausdrücklicher zu adressieren, als es in der früheren Kunst je geschehen war, um zugleich deren Erwartungen möglichst konsequent zu durchkreuzen. Das gespaltene, zwischen Zuwendung und Aggression schwankende Verhältnis zum Publikum zeichnete selbst jene Performances aus, bei denen keine Zuschauer anwesend waren, da sie nur für die Kamera inszeniert wurden.
Die Performance-Kunst ist eines der einschlägigen Beispiele für die Entgrenzung der Gattungen, die sich nach ersten Manifestationen in den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts in den 1960er Jahren so deutlich bemerkbar machte, daß der Eindruck entstehen konnte, Neuerungen seien inzwischen kaum mehr innerhalb der einzelnen Künste, sondern vor allem in ihren Mischformen möglich. In der Performance-Kunst überkreuzten sich vor allem das Theater und die bildende Kunst, wobei auch Tanz, Musik und Literatur einbezogen werden konnten. Mit der bildenden Kunst verband sie die Eigenart, daß die Aktionen meistens von der Herstellung von Artefakten begleitet waren. Fast alle Performances wurden photografisch oder filmisch festgehalten und manche davon anschließend zu Bildcollagen oder Installationen weiterverarbeitet. Nicht selten entstanden auch Objekte, die hinterher ausgestellt wurden. Dazu gehören etwa die reliquienartigen Überbleibsel von Chris Burdens Performances, z. B. das auf einem kleinen schwarzen Sockel präsentierte Vorhängeschloß des Schließfaches, in dem er im April 1971 fünf Tage lang ausharrte. Vom herkömmlichen Begriff der bildenden Kunst hingegen unterschied sich die Performance-Kunst durch die Eigenart, als Medium nicht Leinwand, Farbe oder Gips, sondern den Körper einzusetzen, sowie weiterhin der ephemere Charakter der Aktionen, welcher der Kunst jene Warenform zu nehmen versuchte, zu der sie nach der Meinung der Performance-Künstler herabgesunken war.
Das Ereignishafte sowie die Publikumsorientierung der performativen Handlungen schlugen die Brücke zum Theater, insbesondere zu dessen experimentellen Formen bei Grotowski oder Artaud, die einige der Charakteristika der Performance-Kunst vorwegnahmen. Gleichwohl sind auch hier die Unterschiede unübersehbar. In unserem Zusammenhang sind sie von besonderem Interesse, da sich das aristotelische Katharsis-Konzept auf das Theater (genauer: auf die Tragödie) bezieht. Im Unterschied zu klassischen Theaterstücken lag Performances jeweils kein Text zugrunde, der darin zur Aufführung gekommen wäre. Dies verband sich mit der Eigenart, daß es für die Zuschauer bei den wenigsten Performances darum ging, eine theatrale Handlung zu verstehen, ja, es meist überhaupt keine nennenswerte Narration gab. Performances waren vielmehr strukturelle Anordnungen für sich darin ereignende Interaktionen. Aus diesem Grund trieben sie auch andere Ereignisformen und Umschlagpunkte hervor als ein Drama.
Ein gutes Beispiel hierfür sind die Aktionen von Chris Burden, der zu den bekanntesten Akteuren in der US-amerikanischen Performance-Szene gehörte. In der Performance Shoot, die am 19. November 1971 stattfand, ließ sich der Künstler vor dem kleinen Publikum einer Produzentengalerie in Santa Ana/Kalifornien von einem befreundeten Scharfschützen in den Arm schießen. „Um 19:45 Uhr schoß mir ein Freund in den linken Arm. Die Kugel war eine verkupferte 22 long rifle. Mein Freund stand etwa 4,5 Meter von mir entfernt“, so lautet Burdens nüchterne Beschreibung der Performance. Danach begab sich der Künstler in einen Nebenraum, um sich medizinisch betreuen zu lassen. Was das Publikum zu sehen bekam, war eine einzige sehr kurze Aktion, deren Pointe darin bestand, das Angekündigte auch auszuführen. Der Augenblick der Schußabgabe desorganisierte die klare Relation von Faktum und Fiktion, die ein theatrales Geschehen strukturiert, indem als Ergebnis der künstlerischen Aktion die rohe Tatsächlichkeit einer blutenden Wunde zurückblieb.
Der extremen Kürze von Shoot stand in anderen Arbeiten Burdens eine zeitliche Dehnung gegenüber, die jedoch ebenfalls keinerlei narrative Dimension entfaltete. In Bed piece, durchgeführt im Februar/März 1972, lag er 22 Tage lang auf einem Feldbett, das parallel zur Rückwand einer Galerie in Venice/Kalifornien aufgestellt war. Zu Beginn der Performance zog er sich aus und legte sich hin, ohne weitere Anweisungen zu geben und ohne während der Performance-Dauer mit jemandem zu sprechen. Nur nachts, wenn die Galerie geschlossen war, erhob er sich zuweilen von seinem Bett. Burdens Nahrung bestand in dem, was ihm die Galerieangestellten aus eigenem Antrieb hinstellten, wobei sie es immer häufiger vergaßen, da er für sie, wie er selbst sagte, zu einem Objekt geworden war. Nicht zuletzt wegen Burdens Schweigen klaffte zwischen Performer und Galeriebesuchern eine unüberwindliche Distanz, welche die Spiegelung des eigenen Ichs in demjenigen des Künstlers verunmöglichte. Daß jemand in einem Bett lag, war nichts ungewöhnliches, doch der Transfer dieser intimen Situation in eine Galerie führte dazu, daß sich die Betrachter, wie Burden sich erinnerte, höchstens auf fünf Meter an das Bett herantrauten.