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Vom Raum in der Fläche des Modernismus
in: fRaktur. Gestörte ästhetische Präsenz in Avantgarde und Spätavantgarde, hrsg. von Anke Hennig, Brigitte Obermayr und Georg Witte (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 63), Wien/München 2006, S. 149-178.
Kapitel III: Der Raum im Inneren des Bildes 1: Picassos Collagen
Blicken wir von den nachfolgenden Entwicklungen des 20. Jahrhunderts auf die modernistischen Avantgarden des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück, dann stellt sich die immer stärkere Verflächigung des Bildraumes weniger als Endpunkt einer unumkehrbaren Entwicklung dar, so wie es Greenbergs Modernismus-Deutung nahe legt, sondern vielmehr als ein Durchgangsstadium: als jener ‚rite de passage‘, in der Maurice Denis‘ letztlich triviale Einsicht, ein Bild sei zunächst einmal ein Bild, bevor es irgendetwas anderes sein könne, sich schockartig durchsetzt. Diese Einsicht hatte zur Folge, dass die Dialektik des Bildes zwischen Fläche und Tiefe, Faktum und Effekt, Materialität und Sinn gänzlich neu konzipiert und inszeniert werden musste, was zu jener unerhörten Fülle bald spielerischer, bald geradezu wissenschaftlich vorgehender künstlerischer Verfahren führte, die uns in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts begegnet.
Bereits in Degas‘ Monotypien konkurriert die Auffassung des Bildes als Fläche, die den Einblick in einen virtuellen Raum eröffnet, mit der Auffassung als Oberfläche, auf der gewisse künstlerische Operationen vollzogen werden können. Hinsichtlich dessen geht die kubistische Collage einen entscheidenden Schritt weiter (Abb. 4 und 5). Sie bestimmt das Bild nicht nur als Erscheinungsort von Dingen im Raum, sondern zugleich als eine materielle Grundfläche, auf die man etwas kleben kann. Mit ihrem Montageverfahren, das Schnitt und Aneinanderfügung verbindet, lässt die Collage auf ihre Weise Faktur und Fraktur ineinander aufgehen. An den beiden reproduzierten Arbeiten von Picasso, die 1912 und 1913 entstanden, interessieren mich diesbezüglich vor allem die jeweils aufgeklebten Zeitungen. In Gitarre (Abb. 4) schnitt Picasso die Titelseite eines Anzeigenblattes aus Barcelona, El Diluvio, entzwei und klebte die beiden Teile versetzt zueinander auf. Dem Auseinanderziehen der zusammengehörigen Teile entspringt ein klaffender Zwischenraum, der sozusagen aus dem Nichts heraus entsteht. Diesem ungreifbaren Zwischenraum verlieh Picasso überdies Tiefe, indem er zwischen die beiden Zeitungsteile zwei stark kontrastierende Stücke bedruckten Tapetenpapiers klebte, die einmal über, einmal unter das linke Zeitungsstück geschoben wurden. Beide Räume, sowohl das seitliche Aufklaffen als auch die Vertiefung, sind nicht-illusionistisch, d.h. sie lassen sich nicht als zweidimensionale Darstellung einer außerbildlich vorstellbaren räumlichen Situation begreifen. Beim Übereinanderkleben der Papierausschnitte kehrte Picasso an einer Stelle des Bildes das Verhältnis von buchstäblichem und illusioniertem Raum sogar um. Dem gekurvten Ausschnitt des ornamentierten Tapetenpapiers, das die linke Seite der Gitarre vertreten dürfte, fügte er einen Schatten hinzu. Dieser gezeichnete Schatten bezieht sich jedoch nicht auf das Dargestellte: Es handelt sich gerade nicht um den Schattenwurf der dargestellten Gitarre. Vielmehr bezieht er sich auf den buchstäblichen, aber infinitesimalen Raum zwischen den übereinander geklebten Papierstücken, den er auf diese Weise illusionistisch vertieft, so als stünde das obere der beiden Papiere ein wenig von der Bildfläche ab und würfe das Bild einen Schatten auf sich selbst.
Eine andere Variante, realen und fiktiven Raum gegeneinander auszuspielen, realisierte Picasso in einer Arbeit, die den Titel Violine trägt (Abb. 5). Hier schnitt Picasso die Zeitungsseite nicht nur entzwei, um sie anschließend versetzt aufzukleben, sondern drehte überdies deren eine Hälfte um, mit dem Ergebnis, dass wir nun einmal die Vorder- und einmal die Rückseite desselben Zeitungsblattes sehen. Diese Umwendung einer Hälfte zaubert aus der ehedem homogenen Fläche der Zeitungsseite einen dimensionslosen Raum. Darüber hinaus erzeugt sie visuelle Ambiguitäten, die in unserem Zusammenhang signifikant sind. Der linke Zeitungsausschnitt ist als Figur bestimmt: als Violinenkörper mit seiner charakteristischen seitlichen Einbuchtung. Der rechte Zeitungsausschnitt hingegen erscheint als Grund, vor dem sich die andere Hälfte der Violine, die erneut an der seitlichen Einbuchtung kenntlich wird, abzeichnet. Somit wechselt im Übergang von der linken zur rechten Zeitungshälfte deren jeweiliger Referent. Meint deren bräunlicher Ton auf der linken Seite ‚Holz‘ so auf der rechten Seite ‚Verschattung‘. Die Deutung der rechten Zeitungshälfte als Schattenzone entspricht dabei dem von Picasso suggerierten Lichteinfall. Denn dieser erfolgt, wie mehrere gezeichnete Schatten es anzeigen, eindeutig von links. Während nun aber das Figur-Grund-Verhältnis auf der linken Seite der tatsächlichen Schichtung der Collage entspricht, indem die Zeitung, die den Violinenkörper bedeutet, auf den weißen Blattgrund geklebt wurde, kehrt sich rechts das Verhältnis um. Der vor dunklem Hintergrund sich abzeichnende helle Violinenkörper ist nichts anderes als der Bildgrund selbst. Picassos simple, mit Schere und Leimtopf konkret vollzogene Umwendung eines Zeitungsstückes hat folglich weit reichende Konsequenzen. Zum einen schafft sie einen gänzlich immateriellen, nach den Gesetzen der klassischen Geometrie nicht zu beschreibenden Raum. Zum anderen erschüttert sie die Grunddifferenz bildlicher Darstellung, ja sogar der Wahrnehmung selbst: die Differenz von Figur und Grund. Da es sich bei diesen Collagen um Papier-auf-Papier-Arbeiten handelt, d.h. um Arbeiten, bei denen sowohl der Bildgrund als auch die Darstellung aus demselben Material bestehen, liegt es nahe, in Picassos Umgang mit dem Zeitungspapier eine Reflexion auf den Status der Bildfläche zu sehen, die durch die aufgeklebten Schnipsel ebensosehr materialisiert wie zugleich immaterialisiert wird.