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Poetik der Nachträglichkeit oder Das Warten des Marcel Duchamp
in: Geschichte und Ästhetik. Festschrift für Werner Busch zum 60. Geburtstag, hrsg. von Margit Kern, Thomas Kirchner und Hubertus Kohle, Berlin 2004, S. 461-469.
Kapitel II: Der Flaschentrockner als Paradigma
Der „Flaschentrockner“ als eines der bekanntesten Readymades scheint die These, Duchamp habe das Machen von Kunst durch die Reflexion über Dinge ersetzt, besonders nachdrücklich zu bestätigen. Denn äußerlich läßt er keinerlei Transformationen gegenüber seinen Doppelgängern in den Warenhäusern erkennen. Kunstgeschichtlich betrachtet, verweist der „Flaschentrockner“ denn auch auf eine tiefe historische Zäsur. Am ehesten der Gattung der Skulptur zuzuordnen, steht er exemplarisch für die Kluft, welche in dieser Kunstgattung Tradition und Moderne trennt. Er durchbricht sämtliche Konventionen, welche die Bildhauerei von der griechischen Antike bis zu Rodin bestimmten: die Konzentration auf die menschliche Gestalt, die Beschränkung auf die Materialien Marmor, Bronze und Holz, das monolithische Volumen, die Darbietung auf einem Sockel sowie die herkömmlichen Produktionsformen des Hauens, Formens oder Gießens. Letztere negiert der „Flaschentrockner“ nicht nur durch die industrielle Fertigung, sondern zugleich dadurch, daß Duchamp die Herstellung des Gegenstandes vom Entwurf bis zur Ausführung anderen überließ. Entsprechend schrieb Duchamp, er habe den Flaschentrockner als „bereits fertige Skulptur“ („sculpture toute faite“) gekauft. Nun erst begann die Herstellung des „Flaschentrockners“ als Kunstwerk – eine Herstellung, welche die komplexe, langwierige und wechselvolle Entstehung eines Readymades besonders prägnant veranschaulicht. Zunächst einmal vollzog sie sich in lauter Negationen. Der originale „Flaschentrockner“ wurde nie ausgestellt und ging wie die meisten anderen Readymades verloren, ebenso die Inschrift, mit der er angeblich versehen war. Es gibt keine Zeugen, die ihn gesehen oder gar fotografiert haben, und ein Museum oder ein anderer kunstinstitutioneller Raum waren nicht einbezogen. Wie also wurde das, was wir heute als „Flaschentrockner“ kennen, gemacht?
Eigenen, nachträglichen Angaben zufolge kaufte Duchamp 1914 ein Exemplar dieses Haushaltsgegenstandes in einem Pariser Kaufhaus und stellte ihn, ohne irgendeine Veränderung daran vorzunehmen, in sein Atelier. Nachdem er 1915 nach New York übergesiedelt war, übermittelte er Anfang 1916 seiner Schwester Suzanne Duchamp Anweisungen zur Auflösung seines Pariser Ateliers. Sie betrafen auch den „Flaschentrockner“. „Nun, wenn Du hinaufgegangen bist, hast Du in meinem Atelier […] einen Flaschentrockner gesehen. […] Und ich habe eine Idee, was den besagten Flaschentrockner betrifft: Hör zu. Hier in New York habe ich Objekte desselben Stils gekauft und sie ‚readymade‘ genannt, Du kannst genug Englisch, um den Sinn von ‚bereits fertig‘ zu verstehen, den ich diesen Objekten gebe – Ich signiere sie und gebe ihnen eine Inschrift in Englisch. […] Nimm für Dich diesen Flaschentrockner. Ich mache aus ihm ein Readymade aus der Entfernung. Du wirst ihn unten und im Inneren des unteren Rings beschriften, in kleinen Buchstaben mit einem Pinsel für Öl in der Farbe silbernes Weiß mit der Inschrift, die ich Dir hier anschließend gebe, und Du wirst ihn in derselben Schrift signieren wie folgt: Marcel Duchamp.“ Der Rest des Briefes ist, wenn es ihn je gab, nicht erhalten, so daß unbekannt bleibt, womit der „Flaschentrockner“ hätte beschriftet werden sollen. Später konnte sich Duchamp, der ansonsten über ein vorzügliches Gedächtnis verfügte, an die Inschrift nicht erinnern. Entsprechend beschriftete er ein 1960 von Robert Rauschenberg gekauftes Exemplar mit den Worten: „Unmöglich, mich an den ursprünglichen Satz zu erinnern.“ Trotz Duchamps Anweisungen verlor sich die Spur dieses ersten, lediglich durch Duchamps Brief belegten „Flaschentrockners“, vermutlich wurde er bei der Atelierräumung weggeworfen. Bevor also jemand davon erfahren konnte, landete das Skandalobjekt aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem Müll.
Zwanzig Jahre vergingen, ehe es dem Vergessen entrissen wurde. In den 1930er Jahren entwickelte Duchamp ein retrospektives Interesse an seinem Werk, das ab 1935 zur Fertigung eines tragbaren Miniaturmuseums, der „Schachtel im Koffer“, führte. Nun legte er erstmals die Anzahl und die Entstehungszeit der Readymades fest und stellte von ihnen verkleinerte Repliken oder fotografische Reproduktionen her. Zu diesem Zweck erwarb er 1936 einen neuen Flaschentrockner und ließ ihn von Man Ray fotografieren. Dem Vergangenheitscharakter des Objektes wurde dabei durch verschiedene Maßnahmen sorgfältig Rechnung getragen. Auf dem Bild erscheint er ohne Standfläche, gleichsam schwebend, als ortloses Ding. Eine sorgfältig arrangierte Beleuchtung erzeugt den Effekt, als hätte die in Wahrheit nagelneue Zinkoberfläche bereits Patina angesetzt. Und was auf dem Bild wie ein harter Schlagschatten aussieht, verdankt sich einem zweiten, verschobenen Druck des Umrisses: Als Schatten führt der Gegenstand sein eigenes Double mit sich, womöglich als anschauliche Entsprechung dafür, daß das neue Exemplar lediglich ein verlorenes anderes vertritt. Wenig später wurde der „Flaschentrockner“ in einer Pariser Galerie zum ersten Mal ausgestellt. In Gestalt dieses neu gekauften Exemplars stand er in einer Vitrine, eingereiht unter surrealistische Objekte, Fetische der Papua und Inuit sowie mathematische Demonstrationsmodelle aus dem Institut Poincaré, ohne daß er während der lediglich eine Woche dauernden Präsentation sehr beachtet worden wäre. Anschließend ging auch dieses Exemplar verloren. Als 1941 die „Schachtel im Koffer“ in geringer Auflage erschien, begann die Idee der Readymades endlich etwas bekannter zu werden. Nun wurden auch erste Artikel veröffentlicht, die ihr Konzept zu deuten versuchten. Gut dreißig Jahre waren seit der Entstehung der Readymades vergangen, deren Produktion Duchamp zu diesem Zeitpunkt längst eingestellt hatte.
Der „Flaschentrockner“ spaltete nicht nur die Produktion des Gegenstandes von der Fertigung des Kunstwerkes ab. Auch letzteres vollzog sich in einzelnen, distinkten Schritten und in erheblicher zeitlicher Dehnung, wobei Idee und Ausführung, veränderte Idee und erneute Ausführung zu einer beständigen Modifikation des Werkes führten. Obschon Duchamp 1914 als Entstehungsdatum festlegte, erfuhr der „Flaschentrockner“ seine erste Transformation zwei Jahre später, als Duchamp auf die Idee kam, ihn zu beschriften, zu signieren und rückwirkend zum Readymade zu erklären. Er tat es zudem aus der Ferne, mit Suzanne Duchamp als seinem verlängerten Arm. In den Anweisungen an die Schwester war von einer Präsentation nicht die Rede. Nachdem er bislang ein unbemerktes Dasein im Atelier von Duchamp geführt hatte, sollte ihn die Schwester jetzt lediglich zu sich nehmen. So wurde die retrospektive Versammlung des Œuvres in der „Schachtel im Koffer“, die dem „Flaschentrockner“ nach zwanzig Jahren Inexistenz zu einem zweiten Leben verhalf, zum Readymade zweiter Potenz: zum Readymade nicht mehr eines Alltagsgegenstandes, sondern eines Readymades.
Die „Réflexion à main“ über die Herstellung eines Kunstgegenstandes schloß Duchamp 1964 mit der Entscheidung ab, vierzehn der Readymades in einer Auflage von jeweils acht Stück als Multiples herzustellen – ein Entschluß, der vielen als Verrat an dem erschien, was sie als das Konzept des Readymades verstanden hatten. Die Herstellung dieser Repliken vollzog sich mit jener handwerklichen Sorgfalt, die Duchamp auch bei seinen anderen Hauptwerken walten lieg, dem „Großen Glas“ und „Etant donnés“. Die Multiples sollten exakt den verlorenen Originalen entsprechen. Da die jeweiligen Gegenstände aber mittlerweile nur in veränderter Gestalt käuflich waren, mußten sie als Einzelanfertigungen hergestellt werden, was insbesondere beim Porzellan-Urinal „Fountain“ ein kostspieliges Verfahren erzwang. Isolierte das Readymade ein beliebiges Exemplar aus der industriellen Serienproduktion, kehrte Duchamp den kreativen Akt diesmal um: Das Readymade ging nach einem individuellen Original in Serie. Erst jetzt, in Gestalt dieser Repliken und 50 Jahre nach ihrer mittlerweile mythischen Entstehung, begannen die Readymades die Museen und Ausstellungen zu bevölkern, was inzwischen leicht möglich war, da ihnen Nouveau Réalisme, Pop Art und die entstehende Konzeptkunst ein Rezeptionsumfeld boten, das zu ihrer Entstehungszeit nicht absehbar war. Jetzt endlich konnte der Satz, Duchamp habe Alltagsgegenstände durch die Aufstellung im Museum zur Kunst erklärt, seine Berechtigung finden – wenn dieser Satz damals nicht schon wieder falsch gewesen wäre, da die fraglichen Objekte inzwischen handgefertigte Multiples und keine dislozierten Alltagsgegenstände mehr waren.