Poetik der Nachträglichkeit als Druckversion (PDF mit Fn. 233 KB)
Poetik der Nachträglichkeit oder Das Warten des Marcel Duchamp
in: Geschichte und Ästhetik. Festschrift für Werner Busch zum 60. Geburtstag, hrsg. von Margit Kern, Thomas Kirchner und Hubertus Kohle, Berlin 2004, S. 461-469.
„Das Rad kreisen zu lassen war sehr beruhigend und tröstlich, es eröffnete Wege zu anderen Dingen als den materiellen des alltäglichen Lebens. Ich mochte die Idee, ein Fahrrad-Rad in meinem Atelier zu haben. Ich schaute ihm gerne zu, so wie ich es genieße, in die Flammen zu schauen, die in einem Kamin tanzen.“ (Marcel Duchamp)
Kapitel I: Réflexion à main
Eine heute einflußreiche Spielart der Ästhetik begreift die Kunst als Fortsetzung der Philosophie mit anderen Mitteln. Sie beruft sich auf die Konzeptualisierung der Kunst im 20. Jahrhundert und insbesondere auf deren Präzeptor Marcel Duchamp, dessen Readymades die Sinnlichkeit der Kunst durch die Kraft der Reflexion ersetzt hätten. Duchamp habe das künstlerische Tun, das bislang durch handwerkliches Geschick und den ästhetischen Reiz des Materials geprägt gewesen sei, in eine rein geistige Praxis überführt: in die Reflexion über das Verhältnis von Dingen und Zeichen sowie über die Klassifikation von Objekten. Diese plausible Sichtweise hat ihren blinden Fleck allerdings in der Frage, wie denn solche Reflexionsobjekte gemacht sind, ja, überhaupt gemacht werden können. Deutlich wird dies an zwei Eigenheiten des interpretierenden Umgangs mit den Readymades. Zum einen werden sie aus dem Œuvre herausgelöst, obschon Duchamp selbst sein Œuvre als so geschlossen begriff, daß er es in Gestalt eines Miniaturmuseums, der so genannten „Schachtel im Koffer“, zusammenfaßte. Zugleich verwendete er in der zweiten Hälfte seines Lebens erhebliche Mühe darauf, es im Philadelphia Museum of Art so vollzählig und geschlossen wie möglich zu präsentieren. Dort stehen die Readymades nun in der Nachbarschaft zweier weiterer Hauptwerke, an denen Duchamp über Jahre hin mit größter handwerklicher Sorgfalt arbeitete: „La mariée mise à nue par ses célibataires, même“, auch „Das Große Glas“ genannt, das 1915 bis 1923 entstand, und „Etant donnés: 1° la chute d’eau / 2° le gaz d’éclairage“, an dem Duchamp von 1946 bis 1966 arbeitete. Der blinde Fleck zeigt sich aber auch an der Hartnäckigkeit, mit der behauptet wird, Duchamp habe ab 1913/14 die Kunstwelt durch den Entschluß herausgefordert, beliebige Alltagsgegenstände zu Kunstwerken zu erklären, indem er sie im Museum aufgestellt habe. Bekanntlich ist nichts dergleichen geschehen. Es darf auch vermutet werden, daß der Versuch, wäre er unternommen worden, auch gar nicht erfolgreich gewesen wäre. Vielmehr bedurfte es einer langen Kette verschiedener Handlungen und einer Vielzahl von Mitspielern, um die Readymades von Alltagsdingen in Kunstgegenstände zu verwandeln. Duchamps Ziel bestand nicht in der nominalistischen Setzung von Gebrauchsgegenständen als Kunst. Was ihn interessierte, war weniger die Markierung einer Differenz als vielmehr das Spiel mit ihr. Dieses Spiel spielte er jedoch nicht allein in der Sphäre von Begriffen und Konzepten. Er betrieb es als „Réflexion à main“, als „handbetriebene Reflexion“, die weder die Kunst in Philosophie überführen noch das Machen überwinden wollte. Duchamp suchte viel eher nach einer Neubestimmung dessen, was er durchaus traditionell den „kreativen Akt“ nannte. Dabei stand für ihn außer Frage, daß sich diese Suche nur innerhalb der Kunst und als Kunst vollziehen konnte.