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Realismus und Ursprünglichkeitssehnsucht. Zur französischen Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts
in: Die Natur der Kunst. Begegnungen mit der Natur vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Ausstellungskatalog Kunstmuseum Winterthur, hrsg. von Dieter Schwarz, Düsseldorf 2010, S. 29-47.
Kapitel II: Kunstautonomie
Weder der Standpunkt des Malers noch das von hier aus Sichtbare wirken in Rousseaus Paysage de Fontainebleau besonders herausgehoben oder signifikant. Eher das Gegenteil ist der Fall: gerade der Verzicht auf Selektion und Stilisierung des Motivs erzeugt jenen effet de réel, auf den Rousseau zielt. Wohin sich der Maler setzt, was er ins Auge fasst, spielt – so die Anti-Rhetorik des Bildes – keine Rolle, solange nur das Sichtbare unverfälscht wiedergegeben wird.
Eine solche künstlerische Position setzt voraus, was gemeinhin als ›Kunstautonomie‹ bezeichnet wird: Paysage de Fontainebleau ist das Manifest eines Künstlersubjekts, das selbst bestimmt, was eines Bildes würdig ist, und zugleich das Manifest einer eigengesetzlichen Malerei, die ihren ästhetischen Wert ganz aus sich selbst schöpft. Rousseau verlieh diesen Postulaten auch dadurch Nachdruck, dass er Mitte der 1840er Jahre Paris verließ und sich vor den Toren der Stadt bei jenem Wald niederließ, den er sich zu seinem wichtigsten Sujet gewählt hatte.
Hinsichtlich der Auffassung, ein Steinbrocken in einer Waldlichtung reiche als Sujet eines Bildes aus, müssen im Frankreich des 19. Jahrhunderts zwei Schritte der Autonomisierung unterschieden werden. Zunächst, nach dem Ende des Ancien régime und verstärkt in der Romantik, ging es darum, die Malerei von der Aufgabe zu entbinden, gewisse vorgegebene Inhalte zu repräsentieren und auf diese Weise eine fremdbestimmte gesellschaftliche Funktion, beispielsweise für die Kirche oder den Staat, zu erfüllen. Der zweite Schritt war entschieden radikaler. Maler wie Rousseau wiesen die Verpflichtung zurück, in ihren Bildern überhaupt etwas auszusagen, was sich nicht aus dem Kunstwerk selbst erschloss. Die Ausdifferenzierung eines auf sich selbst gegründeten malerischen Feldes vollzog sich daher insbesondere durch die Abwehr alles ›Literarischen‹ im weitesten Sinne des Begriffs. Das Bild sollte auf keine Textquelle rückführbar sein, ja noch nicht einmal auf einen heteronomen Diskurs, der von außen bestimmte, wonach sich seine Herstellung und seine Betrachtung zu richten haben. Daraus erklärt sich die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmende Tendenz zu inhaltsarmen Sujets und zu einer offenen, skizzenhaft wirkenden Malweise: Beides unterlief die Möglichkeit, dem Kunstwerk eine von ihm ablösbare Aussage entnehmen zu können.
Damit ging eine Neufundierung des künstlerischen Tuns einher. Während die Bezugsgrößen der vormodernen Kunst – das Prinzip der Nachahmung, die Gliederung in höher- und minderwertige Gattungen und Darstellungsmodi oder die Patronats- und Auftragsverhältnisse – an Bedeutung verloren, gingen die Künstler auf die Grundlagen ihres Tuns zurück. Zunehmend freigesetzt von ihren tradierten Aufgaben, begannen sie, ihre Selbst- und Weltwahrnehmung zu erforschen sowie über ihr Gestaltungsmedium zu reflektieren. Die Besonderheiten der subjektiven Wahrnehmung einerseits und der Eigenheiten des künstlerischen Mediums andererseits wurden nun zum Fundament der Kunst. Im ersteren Fall bestimmte sich ›Autonomie‹ als Freisetzung des Künstlers von unmittelbaren Vorgaben politischer, religiöser oder weltanschaulicher Art. Im letzteren Fall bestimmte sie sich als Freisetzung des malerischen Idioms von normativen Vorgaben hinsichtlich der angemessenen Darstellungsweisen und malerischen Techniken. Unter solchen Voraussetzungen kann das ›Porträt‹ eines Findlings einem Gemälde über die Mysterien des Glaubens oder die großen Taten von Prinzen und Helden grundsätzlich ebenbürtig werden.
Die Ästhetisierung der Kunst – als das Zurückdrängen aller nicht-ästhetischen Kommunikate eines Kunstwerks – erfolgte parallel zum Aufstieg der Landschaftsmalerei zu einer Leitgattung des 19. Jahrhunderts. Beide Prozesse bedingten und beförderten sich wechselseitig. In der Gattungshierarchie der vormodernen Kunst, an deren Spitze die religiöse und weltliche Historienmalerei stand, rangierte die Landschaftsmalerei aufgrund ihrer Inhaltsarmut auf einem niedrigen Rang. Jetzt aber wurde dasselbe Charakteristikum zu einem entscheidenden Vorzug. Indem ein Landschaftsgemälde in erster Linie den eigenen Entstehungsprozess vorführte – den Gang zum Motiv, das genaue Studium des gewählten Objekts und die Umsetzung des Gesehenen in Malerei -, war es besonders gut geeignet, die Neufundierung der Malerei auf die Subjektivität der Wahrnehmung und die Eigengesetzlichkeit des Mediums augenfällig werden zu lassen.
Die Doktrin des l’art pour l’art, die etwas später als Rousseaus Gemälde und parallel zum Aufstieg des Impressionismus entstand, führte diese Auffassung zu einem Höhepunkt. Einen ihrer Gründungstexte verfasste 1884 Théodore Duret, ein Sammler und zugleich einer der ersten Historiker des Impressionismus. Durets Argumentation bezieht die Bestimmung der eigentlichen Qualität der Malerei unmittelbar auf die Kunstauffassung des Connaisseurs, der an einem Kunstwerk nicht seinen Inhalt, sondern allein die Art und Weise seiner künstlerischen Realisierung schätzt. In den Augen der Kenner, so Duret, dominiere die eigentliche, immanente Qualität der Malerei alles andere, und das Sujet, das ehedem über die Vorzüge gegenüber anderen Bildern entschieden habe, sei für sie eine bloße Nebensächlichkeit. Kenner seien unvoreingenommen, was das Sujet eines Bildes betreffe, jedoch äußerst eklektisch hinsichtlich der künstlerischen Qualität. Alles, was sie von einem Bild forderten, sei, dass es ›wirkliche Malerei‹ sei. In dieser Hinsicht jedoch seien sie erbarmungslos.
Insbesondere den Ausstellungsexponaten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich dieser folgenreiche Paradigmenwechsel ablesen. Endgültig vollzogen ist er beispielsweise bei Cézanne, dessen Gemälde Sous-bois schon zur Sprache kam, aber auch in den nur wenig früheren Gemälden Claude Monets, etwa den beiden Seestücken Étretat, Falaise et Porte d’amont, grosse mer (1883) oder Tempête sur les côtes de Belle-Île (1886).
Monets Meer ist kein Ort, wo mythische Gestalten wohnen oder sich signifikante Ereignisse abspielen. Wovon die Gemälde ›erzählen‹, ist vielmehr die Verwandlung der Dynamik des Motivs in die Dynamik der Malerei, die sich der ästhetischen Sensibilität und der Virtuosität des Malers verdankt. Monet zielte in seinen Gemälden auf einen Effekt, den man zusammenfassend als ›stehenden Augenblick‹ bezeichnen kann: auf die ›Momentaneität‹ als Prinzip sowohl der ästhetischen Naturerfahrung als auch der Erscheinungsweise der Dinge. Zwischen beidem vermittelte für Monet das Licht. Dieses begriff er als eine raumzeitliche ›Hülle‹, die die Dinge umschloss und sie zum Ereignis der Sichtbarkeit machte. Während Cézanne seine Motive in ein ebenmäßiges, keiner Tageszeit zuzuordnendes ›graues Wetter‹ tauchte, hatte Monet die Ambition, jener ›Momentaneität‹ die Konkretion einer spezifischen, beständig veränderlichen Lichtsituation zu geben, womit er die stasis und die dynamis der Zeiterfahrung miteinander verschmolz. Und während Cézannes pulsierende Räumlichkeit aus dem Kontrast der distinkten und vergleichsweise regelmäßig aufgetragenen Flecken entspringt, erreichte Monet den Effekt der ›instantaneité‹ durch die geradezu chaotische Mikrostruktur seiner Malerei, deren divergierende Kräfte erst im Gesamtbild ausbalanciert erscheinen. Monets Farbauftrag ist ohne klare Ausrichtung, ja sozusagen omnidirektional, was beim Sujet der beiden Gemälde – an Klippen sich brechenden Wellen – unmittelbar sinnfällig ist. Bei jedem Pinselschlag wechseln Form und Konsistenz des Farbauftrags, und das Springen des Pinsels über die Bildfläche wirbelt die Malschichten durcheinander. Die Materialität und die Bewegtheit der Malweise berühren sich mit der Beschaffenheit des Motivs, was zu einer ›Körperlichkeit‹ des Darstellens wie auch der Werkerfahrung führt, denen wir in anderer Weise bereits bei Courbet begegneten. Wie Courbet spielte auch Monet mit den Möglichkeiten wechselnder malerischer Oberflächenstrukturen: Étretat, Falaise et Porte d’amont weist nicht nur entschieden geringere Farb- und Helligkeitskontraste auf als Tempête sur les côtes de Belle-Île, sondern ist in seiner Maloberfläche auch weniger reliefiert. Denn da die ›Hülle‹ des Lichts im ersteren Gemälde die Abenddämmerung ist, entschied sich Monet hier für eine weichere, ebenmäßigere Oberflächentextur, die er durch die Verwendung flüssigerer Farben erreichte.
In Monets bildnerischer Logik bleibt das Licht den Dingen nicht äußerlich – als akzidentelle Beleuchtung einer gleichbleibenden Substanz, die sie lediglich anders erscheinen ließe -, sondern es verwandelt die Dinge, indem es deren Materialität zu transformieren scheint. Diese materielle Verwandlung der Dinge durch das Licht realisierte Monet im Medium seiner Malerei. Im ›Stoff‹ der Gemälde gehen Substanz und Akzidenz ineinander auf, durchdringen sich die Entmaterialisierung der Wasser- und Felsmassen zu ephemeren ästhetischen Effekten und die Materialisierung des Bildes als je anders durchgearbeitete Malerei.
Bei den Zeitgenossen, die die Malerei zwischen Rousseau und Cézanne kritisch begleiteten, hat die Konzentration auf Naturdetails und die zunehmend offene, skizzenhafte Ausführung der Gemälde nicht nur Zustimmung gefunden. Gängig wurde die Klage, diese Maler seien offenbar nur noch in der Lage, ›Stücke‹ oder ›Fragmente‹ (›morceaux‹) zu produzieren, nicht aber Bilder in einem inhaltlich und formal vollgültigen Sinne (›tableaux‹). Die ›realistische‹ Zuwendung zur Tatsächlichkeit des Gesehenen sowie zum konkreten Vollzug des Sehens und des Malens zerstöre, so die Kritik, jenen Blick auf das Ganze und jene durchgestalteten bildnerischen Kompositionen, die die frühere Kunst hervorgebracht habe. Gleichzeitig lasse die Beschränkung der Kunst auf ihre ästhetische Funktion die moralische und gesellschaftliche Rolle der Kunst leerlaufen. Unklar blieb für die Kritiker, worin der Sinn lag, solche Bilder zu produzieren, und worin er lag, diese anzuschauen. Die Kehrseite des Autonomisierungsprozesses lag (und liegt) folglich darin, dass sich diese Fragen seither immer neu stellen und immer neu beantwortet werden müssen.
Einleitung | |
Kapitel I: Realismus | |
Kapitel II: Kunstautonomie | |
Kapitel III: Natur und Kultur | |
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