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Der Einsatz der Autonomie. Spieldimensionen in der Kunst der Moderne
in: Faites vos jeux! Kunst und Spiel seit Dada, Katalog Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz; Akademie der Künste, Berlin; Museum für Gegenwartskunst, Siegen, hrsg. von Nike Bätzner, Ostfildern-Ruit 2005, S. 37-46.
4. Der Künstler als Spieler
Die dritte Dimension im Verhältnis zwischen Kunst und Spiel stellt die Figur des Künstlers dar. Diese dritte Dimension erschließt dem Thema eine sozio-historische Perspektive, da sie auf jenen komplexen Prozess der Autonomisierung der Kunst verweist, der seine positive Seite in der Befreiung des Künstlers aus den paternalistischen Bindungen an Herrscherhäuser oder Gildenstrukturen hat. Die negative Seite dieses Prozesses besteht in der drohenden Marginalisierung in einer Gesellschaft, deren materialistische Werte der Existenz und dem Ansehen der Künstler abträglich sind und deren Marktmechanismen häufig noch unbarmherziger ausfallen als die feudalen Verhältnisse des Ancien régime. Erst mit der ebenso ersehnten wie erlittenen Autonomisierung entsteht jenes eigengesetzlich strukturierte „Feld“ der Kunst, wie Pierre Bourdieu es nennt. Folgen wir Bourdieus Definition gesellschaftlicher Felder, dann teilen sie mit dem Spielfeld die Eigenschaft, ein Ort relationaler Interaktion zu sein. Den Relationen kommt dabei gegenüber den Menschen und Dingen der Vorrang zu, da die Menschen und Dinge durch die Relationen bestimmt werden und nicht umgekehrt. Erst im Zuge der Herausbildung eines eigenen künstlerischen Feldes mit den ihm eigenen relationalen Kräften entsteht die Figur des Künstlers, so wie wir sie heute kennen, jenseits der ehemaligen Daseinsform als Handwerker oder Höfling. Zweierlei musste sich dabei herausbilden: eine neue Funktion der Kunst und eine neue gesellschaftliche Rolle des Künstlers. Letzteres aber führt dasjenige Spiel in die Kunst ein, das Roger Caillois als eine der vier Grundformen des Spiels bestimmte: das Rollenspiel. Es dürfte kaum gelingen, alle Rollen aufzulisten, die von den Künstlern der Moderne probeweise angenommen wurden, eben weil die Gesellschaft keine originäre Rolle und Funktion für den Künstler bereithielt. Sie reichen vom Dandy (Edouard Manet) bis zur Maschine (Andy Warhol), vom Sozialutopisten (Joseph Beuys) bis zum Zirkusartisten (der frühe Pablo Picasso), vom Intellektuellen (Joseph Kosuth) bis zum Museumsdirektor (Marcel Broodthaers), vom Ethnologen (Robert Smithson) bis zur Enzyklopädistin (Hanne Darboven). Viele dieser Rollen bilden einen Reflex auf die gespaltene Position des Künstlers, einerseits Teil der Gesellschaft sein zu wollen, andererseits außerhalb ihrer stehen zu müssen.
In der besonders reichen Rollenkollektion, die sich Marcel Duchamp im Laufe seines Lebens zulegte, kommt die Figur des Spielers auch selbst vor – bezeichnenderweise in der doppelten Ausprägung als Strategiespieler (Schach) und Glücksspieler (Roulette), womit zugleich die Pole von Duchamps Umgang mit der Kunst benannt sind. Duchamps einzigartige Fähigkeit bestand darin, die Kunstpraxis der Moderne von außen wie eine Spielanordnung zu sehen, während er sich zugleich als Spieler darin bewegte. Gerade weil er die Gesetze des Modernismus kannte – die Ich-Bezogenheit der Expression, die idée fixe des Fortschritts, das bürgerliche Streben nach Ansehen, den ästhetischen Moralismus der reinen Form oder den Glauben an die soziale Sprengkraft künstlerischer Praxis -, gelangte er zu jener souveränen, nach allen Seiten hin spielverderberischen Autonomie, die sein Lebenswerk auszeichnet. In ihm durchdringen sich die transitive und die intransitive Dimension des Spiels. Zum einen summiert sich sein Œuvre zu einem beständigen Spiel mit den Regeln der Kunst. Zum anderen zeigt sich die intransitive Bewegung eines in sich zurücklaufenden Hin und Her in jenem „Atmen“, das er nicht nur seinen Werken zuschrieb, sondern in späten Jahren sogar als seine eigentliche Tätigkeit bezeichnete. So unterlief Duchamp sogar das Grundprinzip der künstlerischen Tätigkeit: das Produzieren selbst. Sein größtes Werk sei die Art und Weise, wie er sich die Zeit vertreibe, sagte sein langjähriger Freund Henri-Pierre Roché. Duchamps Bruder Jacques Villon drückte es drastischer aus. Er beschrieb diesen größten Spieler unter den Künstlern des 20. Jahrhunderts als jemanden, „der alles tut, als ob es ihm stets nur darum ginge, die Zeit totzuschlagen“.
1. Einleitung | |
2. Das Werk als Spiel | |
3. Das Spiel mit dem Betrachter | |
4. Der Künstler als Spieler | |
5. Resümee | |
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