Kocherscheidt Bild Objekt Verkörperung Skulptur

Kocherscheidt – Sartre – Rihm als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 34.100 KB)

spacer

„Ein Lob dem groben Schnitt, dem brechenden Rand und der Bildentgleisung.“ Kocherscheidt – Sartre – Rihm

in: Brustrauschen. Zum Werkdialog von Kurt Kocherscheidt und Wolfgang Rihm, hrsg. von Heinz Liesbrock, Stuttgart 2001, S. 28-53.

Kapitel IV

Drei Jahre später, 1985, begegnen wir mit Bildern wie Russische Hütte (Abb. S. 39) Werken, die erneut einen Schritt weitergehen und jetzt den Charakter von Bild-Objekten gewinnen, was sich äußerlich allein schon am Umriß in der Art eines „shaped canvas“ zeigt. In solchen Arbeiten hat die baldige Gabelung des Weges in Malerei und Skulptur ihre Vorboten. Der Farbauftrag wird noch pastoser und gleichzeitig trockener, die rauhen Wände dieser Hütte sind geradezu spürbar. Vor allem aber verschwindet die differenzierende Behandlung von Figur und Grund, die sich noch bis zu den „Leib“- oder „Säulen“-Bilder durchhielt, zugunsten einer wechselseitigen Durchdringung. Beide sind gleichermaßen aufgehoben im objekthaften Bildkörper. Verantwortlich ist dafür in erster Linie die gegenüber Großer Leib IV gewandelte Rolle der verschiedenen Bildtafeln, aus denen sich beide Werke zusammensetzen. Die riesige Russische Hütte erscheint aus ihren insgesamt fünf Tafeln regelrecht errichtet, mit drei unteren Tafeln als Wand oder Basis, und zwei oberen Tafeln als Dach oder Architrav. Deren Mittelspalte trifft dabei tektonisch korrekt, quasi nach dem Backsteinprinzip, auf die durchlaufende Oberkante der unteren Mitteltafel. Die Struktur des Bildes und die Struktur des Dargestellten fallen in eins. Die gemeinte Russische Hütte ist genau diese Zusammenfügung von fünf sehr dichten, flächigen Tafeln. Die Pointe von Kocherscheidts Hütte liegt dabei in der nach unten verlängerten Mitteltafel und somit darin, daß sie nur an der Wand hängen kann, wenn sie nicht kippen soll. Ihre Stabilität als Hütte ist ihre Festgefügtheit als Bild.
In der Russischen Hütte ergibt sich eine starke Spannung zwischen der Materialität und Wirkkraft der Farbe und dem Ding-Charakter des Bildes als Gegenstand. Zwei Körperlichkeiten, die zwei Formen der Verkörperung darstellen, geraten in eine Konkurrenz, die sich mit der Assemblage von Bildtafeln als der Vermittlung beider nicht aufheben ließ. An diesem Punkt beginnt Kocherscheidt auf den zwei Pfaden von Malerei und Skulptur gleichzeitig weiterzugehen. Mit der Scheidung der beiden Verkörperungsformen in Malerei und Skulptur gelingt Kocherscheidt die jeweilige Befreiung beider zu sich selbst. („Befreiung“ ist dabei Kocherscheidts eigene Formulierung.) Auf den ersten Blick scheinen die zeitgleich entstehenden Bilder und Holzarbeiten eher Varianten desselben zu sein, wie etwa die Gegenüberstellung der Russischen Hütte mit der Englischen Acht (Abb. S. 41) zeigt. Gewisse Formelemente haben sie sogar unmittelbar gemeinsam. Die Polygone in der rostroten Fläche der Skulptur sind Öffnungen an Stellen, die vorgängig bereits mit weißer Farbe markiert worden waren. Ebensolche weiße Polygone finden wir in der Russischen Hütte. Mit dem Ansetzen der Säge forciert Kocherscheidt nun aber in der Englischen Acht die eine Seite der Russischen Hütte, nämlich ihre Tendenz zum Bild als Objekt. Und während die Russische Hütte mit ihrer nach unten verlängerten Mitteltafel zugleich die Daseinsform als Bild pointiert, ruht die Skulptur der Englischen Acht nun auf zwei Füßen auf, die ihr Stehen auf dem Boden ausdrücklich werden lassen.
Im Augenblick, in dem die Objekt-Seite der bisherigen Werke von den neu entstehenden Skulpturen gleichsam absorbiert wird, beginnt sich die Malerei entsprechend zu transformieren. An einer Arbeit wie Brustrauschen (Abb. S.43), die im gleichen Jahr 1986 entsteht wie die Englische Acht, wird dies deutlich. Wiederum läßt gerade die oberflächliche Ähnlichkeit die jeweiligen Akzentuierungen offenbar werden. Die Differenz zwischen Bild und Skulptur artikuliert sich im Lochmotiv, das in beiden Arbeiten eine zentrale Rolle spielt. Bei der Skulptur sind es Öffnungen auf einen unbestimmten Raum hinter der Skulptur hin, die den schildartigen Körper zuallererst hervortreten lassen. Genau umgekehrt verhält es sich mit den sechs Löchern in der gelben Membran von Brustrauschen. Sie sind der Ort, wo das darunterliegende Blauschwarz hervorbricht und, in Umkehrung der farbräumlichen Logik, vor das helle Gelb zu treten scheint. Jede empirisch-räumliche Abfolge, jede klare Differenzierung in Figur und Grund bzw. Körper und Umraum, wie es die Englische Acht charakterisiert, hebt sich dadurch auf, was den verschiedenen Ebenen und Partien des Bildes einen ebenmäßigen Grad an Präsenz verleiht. Den acht Negativformen der Englischen Acht antworten so die sechs Positivformen in Brustrauschen, in denen ein hintergründiges Dunkel uns anblickt.
Obschon Brustrauschen aus mehreren Tafeln zusammengefügt ist, verschwindet das Tektonische, das für die Russische Hütte so bezeichnend ist, und mit ihm der Versuch, in der Bildgestalt zugleich eine Gegenstandsgestalt hervorzubringen. Der Akzent liegt eindeutig mehr auf „Rauschen“ denn auf „Brust“, was dieses Bild trotz seines Titels entschieden von der Serie der Leiber trennt. Es ereignet sich hier ein Geräusch oder ein Tönen, das sich objekthaft nicht mehr fixieren läßt. Dieser rauschende, hell-dumpfe Klang, so körperlich er uns erfaßt, ist ausschließlich der einer „befreiten Farbe“, die im Bild von der Schwerkraft gelöst und doch schwer, nämlich als Farbe wie als Farbkontrast schwer, im Bild schwebt. „Die Bilder rücken in die Nähe von Musik“, schreibt Kocherscheidt und zitiert Wolfgang Rihm: „… das Geräusch der Oberflächen, das Dröhnen der Bild- und Farbflächen, das Tempo der Zeichen.“

Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Punkt Kapitel IV:
Pfeil Kapitel V
spacer
Kocherscheidt – Sartre – Rihm als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 34.100 KB)