Ereignis und Medialität (PDF mit Abb. u. Fn.)
Ereignis und Medialität. Andy Warhols „Jackie (The Week That Was)“
in: Bilder machen Geschichte. Historische Ereignisse im Gedächtnis der Kunst, hrsg. von Uwe Fleckner (Studien aus dem Warburg-Haus 13), Berlin 2014, S. 357-370.
Kapitel 2: Mediale Transformationen der Politik
Die vom Attentat ausgelöste Krise wird zumindest vom Fernsehen meisterlich bewältigt. Kurz nach Kennedys Tod beschließen die drei landesweit sendenden Kanäle ABC, CBS und NBC, alle laufenden und geplanten Programme auszusetzen und bis zum Begräbnis am Montag auf Direktsendung zu schalten. So entsteht die bis heute längste und aufwendigste Live-Sendung der Fernsehgeschichte: »Ich kenne nichts, was zuvor oder danach diese Spitzenleistung erreichte. […] Ich war für die gesamte Berichterstattung verantwortlich. Es war eine schwierige Aufgabe, aber jedermann kooperierte; wir hatten Kameras an allen Orten, wir hatten Leitungen von überall her – die Berichterstattung und die Zusammenarbeit des Fernsehens war einfach absolut großartig«, so beschreibt J. Leonard Reinsch, Kennedys Medienberater, die damalige Aufgabe. Die Vorfälle dieses Wochenendes transformieren sich bereits im Augenblick ihres Geschehens in ein Medienereignis, der historische Einschnitt der Ermordung Kennedys wird zum Höhepunkt der Fernsehgeschichte. Er schließt sogar einen sensationellen Live-Augenblick ein: Während ABC und CBS am Sonntag den eintönigen Vorbeizug der Trauernden am Sarg zeigen, schaltet NBC auf die Überführung Lee Harvey Oswalds ins Bezirksgefängnis. So können die Zuschauer dieses Senders dessen Erschießung in der Tiefgarage des Polizeihauptquartiers von Dallas unmittelbar mitverfolgen.
Das Fernsehen dokumentiert das Geschehen nicht nur, sondern übernimmt zugleich eine bislang unbekannte Rolle im politischen und emotionalen Leben der Nation. Reinsch nennt sie die Herstellung einer »Gemeinschaft der Anteilnahme«, bei der zum Beispiel die Bilder von Kennedys Lieblingspferd Black Jack, das dem Sarg auf dem Weg zum Kapitol folgt, oder von seinem dreijährigem Sohn, der beim Wegfahren des Leichenwagens zum Friedhof salutiert, eine Schlüsselrolle spielen: »Alle – ob sie nun in Atlanta, Georgia, in New York City oder in Keokuk, Iowa, waren – empfanden und fühlten wie ein einziger Mensch. Sie fanden zusammen in ihrer Trauer um die ermordete Führerfigur, und sie spürten, dass sie an dieser tragischen Zeremonie beteiligt waren. […] Das Fernsehen brachte sie an Ort und Stelle. Der Anblick dieses reiterlosen Pferdes auf der Pennsylvania Avenue musste einem das Herz zusammendrücken, und den kleinen John-John salutieren zu sehen war schlicht ein weltweiter Gefühlsappell.«
Der kontinuierliche Bilderfluss sollte den Schock des plötzlichen politischen Vakuums regelrecht überspielen. Einerseits wird die unverzügliche und unbestrittene Übertragung der Macht auf den Vizepräsidenten für alle sichtbar vorgeführt, andererseits Jacqueline Kennedy in den Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit gerückt: als Garantin der Kontinuität sowie als emotionale Identifikationsfigur, in deren Trauer und Tapferkeit sich die Gefühle der Nation spiegeln können. Geschieht auf der Washingtoner Trauerbühne gerade nichts Neues, was in diesen vier Tagen häufig der Fall ist, werden die vergangenen Szenen des Wochenendes erneut gezeigt. Die unablässige Wiederholung der Bilder und Meldungen wird, wie Zeitgenossen bezeugen, zu einem wesentlichen Bestandteil der Erinnerung an diese Zeit. Auch mit dieser Redundanz hilft das Fernsehen bei der Bewältigung des Unfassbaren.
Zur media coverage der Ereignisse, wie es im Englischen so passend heißt, tragen auch die Printmedien bei, an erster Stelle die damals weltgrößte Wochenzeitschrift Life mit ihrer Auflage von knapp zehn Millionen Exemplaren. Die Ausgaben vom 29. November und 6. Dezember 1963 bringen ausführliches Bildmaterial über den Mord und die Trauerfeierlichkeiten, dem Warhol fünf der acht Vorlagenbilder entnimmt. Doch schon die nächstfolgende Ausgabe vom 13. Dezember markiert den vollzogenen Übergang. Auf dem Titelbild zeigt sich Johnson im Oval Office hinter dem präsidialen Schreibtisch, der Leitartikel trägt die Schlagzeile »Johnson on the Job«. Wie weit die stillschweigende Allianz zwischen Massenmedien und Regierungsbemühungen ging, um Ruhe und Sicherheit im Land zu gewährleisten – was nicht zuletzt bedeutete, die offizielle Darstellung von Lee Harvey Oswalds Einzeltäterschaft ohne jeden Verschwörungshintergrund zu stützen –, offenbart sich im Coup der Zeitschrift Life, die sich am Tag nach dem Attentat für eine hohe Geldsumme jenen Super-8-Film sicherte, den der Kleiderfabrikant Abraham Zapruder aus nächster Nähe am Tatort aufgenommen hatte und der bis heute das Hauptdokument für den Attentatsverlauf darstellt. Während das FBI die Kopien beschlagnahmt, erwirbt Life den Originalfilm und druckt in seinen Ausgaben vom 29. November und 6. Dezember einige der Einzelbilder ab, allerdings ohne die Einzelbildnummern, welche deren Reihenfolge beglaubigt hätten, sowie unter Auslassung derjenigen frames, welche die These von Oswalds Einzeltäterschaft hätten unterlaufen können. Mit einer Formulierung Jacques Derridas kann man den Bezug zwischen Ereignis und Medialität, so wie er sich in jenen Tagen darstellt, vielleicht am bündigsten erfassen: »Alles fängt mit der Reproduktion an. Immer schon, das heißt als Niederschlag eines Sinns, der nie gegenwärtig war, dessen bedeutete Präsenz immer ›nachträglich‹, im Nachhinein und zusätzlich rekonstituiert wird.«
Was die Leistung der Medien anbelangt, kam Kennedys Präsidentschaft zu einem würdigen Abschluss. Er war der erste Präsident, der die Bedeutung und die Möglichkeiten des neuen Mediums Fernsehens erkannt und zielstrebig eingesetzt hat. Insbesondere im Wahlkampf 1960 wusste er es klug zu nutzen. Dass Kennedy das erste und entscheidende der neu geschaffenen Fernsehduelle zwischen den Spitzenkandidaten gewinnen konnte, lag vor allem an seiner außerordentlichen Telegenität, die seinem Kontrahenten Nixon abging. Dank zugespielter Informationen der Fernsehgesellschaft CBS vermochte er diesen Vorteil auszubauen. Er hatte davon Kenntnis erhalten, dass die Studiowand, vor der die Redner während der Debatte stehen sollten, weiß gestrichen und der Auftritt von starken Scheinwerfern beleuchtet sein würde. So erschien er im dunklen Anzug und von einer Wahltournee in Kalifornien frisch gebräunt. Während er sich den Zuschauern auf diese Weise als »profilierte« Gestalt präsentieren konnte, verschwamm Nixon in seinem hellen Jackett förmlich im Hintergrund. Das grelle und heiße Scheinwerferlicht ließ ihn, der gerade einen Krankenhausaufenthalt hinter sich hatte, wächsern und unrasiert erscheinen, die auf die Stirn tretenden Schweißperlen erzeugten den Eindruck geringerer Standfestigkeit. Die besseren Argumente, die ihm die politischen Kommentatoren danach zubilligten, unterlagen dieser optisch eindeutigen Situation. Eine Blitzumfrage nach dem Rededuell ermittelte bei denjenigen, welche die Debatte am Radio verfolgt hatten, Nixon als Sieger, während die schätzungsweise 74 Millionen Fernsehzuschauer sich klar für Kennedy aussprachen. Der bis dahin national weit weniger bekannte Kennedy hatte nun erstmals einen Vorsprung auf seinen Konkurrenten gewonnen, den er nicht mehr verlieren sollte. Angesichts der Tatsache, dass Kennedy mit einer Mehrheit von lediglich rund einhunderttausend Stimmen gewählt wurde (34.221.463 gegen 34.108.582 Stimmen), wird die Bedeutung des Fernsehduell-Sieges evident. Ereignisse dieser Art markieren die umfassende Veränderung der politischen Kultur durch das Fernsehen, die nicht nur eine Medialisierung, sondern vor allem eine Personalisierung und Emotionalisierung der Politik bewirkt.