Ereignis und Medialität (PDF mit Abb. u. Fn.)
Ereignis und Medialität. Andy Warhols „Jackie (The Week That Was)“
in: Bilder machen Geschichte. Historische Ereignisse im Gedächtnis der Kunst, hrsg. von Uwe Fleckner (Studien aus dem Warburg-Haus 13), Berlin 2014, S. 357-370.
Kapitel 1: Warhols Umgang mit dem dokumentarischen Material
Am Freitag, den 22. November 1963 wird Präsident John F. Kennedy, der sich auf Vorwahlkampfreise durch Texas befindet, während der mittäglichen Paradefahrt durch Dallas im offenen Wagen erschossen. Die Ereignisse folgen darauf Schlag auf Schlag: Bereits drei Stunden nach dem Attentat wird Vizepräsident Lyndon B. Johnson an Bord des präsidialen Flugzeuges in Gegenwart der Witwe Jacqueline Kennedy vereidigt. Anschließend fliegt der neue Präsident unverzüglich nach Washington, um sich Kennedys Kabinett zu verpflichten und die Fortführung von dessen Politik anzukündigen. Kennedys Leiche, die in der Präsidentenmaschine mitflog, wird derweil einer Autopsie unterzogen, bei der bis heute umstritten bleibt, ob sie der Wahrheitsfindung oder aber -vertuschung über die Eigenart der Todesschüsse diente. Noch am Nachmittag dieses Freitags wird Lee Harvey Oswald als mutmaßlicher Täter verhaftet. Während des nachfolgenden Tages bleibt Kennedys Leiche im East Room des Weißen Hauses aufgebahrt, wo ihm Familienmitglieder und Vertraute sowie Vertreter der staatlichen Gewalten die letzte Ehre erweisen. Am Sonntag, den 24. November wird der Sarg in feierlicher Prozession zum Kapitol gebracht und in dessen Rotunde aufgestellt. Tausende nehmen dort bis in die Morgenstunden des nächsten Tages von ihrem Präsidenten Abschied. Während der Überführung vom Polizeihauptquartier ins Bezirksgefängnis von Dallas wird Lee Harvey Oswald, dessen Täterschaft keineswegs feststeht, vom Nachtklubbesitzer Jack Ruby erschossen. Am nächsten Tag, den Johnson zum nationalen Trauertag erklärt, wird Kennedys Sarg wieder zum Weißen Haus und weiter in die St. Matthew’s Cathedral zur Totenmesse gebracht. Zu Fuß folgen nicht nur die Familienmitglieder und die wichtigsten Repräsentanten des Staates, sondern auch eine große Zahl auswärtiger Staatsoberhäupter und Regierungschefs. Nach der Messe bricht eine lange Wagenkolonne zum letzten zeremoniellen Akt auf, dem Staatsbegräbnis auf dem Arlington National Cemetery.
Die Arbeit an der Serie der Jackies nimmt Warhol vermutlich unmittelbar nach den Ereignissen auf, und bereits Anfang Februar 1964, nur gut zwei Monate nach dem Attentat, entstehen die ersten Werke, unter ihnen als eines der frühesten Bilder Jackie (The Week That Was). Bis November desselben Jahres wächst die Serie auf über dreihundert Werke an, von Mehrtafelwerken wie dem hier besprochenen Bild über Triptychen und Diptychen bis hin zu Einzelbildern, von denen einige im Tondoformat gefertigt sind.
Den ersten Schritt in Warhols pictorial design bildet die Entscheidung für bestimmte Vorlagenbilder, welche die Werke der Serie zu einer Mischung aus Historienbild und Porträt werden lassen. Warhol wählt acht Pressebilder, die jeweils auch die Gattin beziehungsweise Witwe des Präsidenten zeigen, schneidet jedoch um deren Kopf herum alles weg, was jeweils nicht nur den größten Teil des Bildes betrifft, sondern zuweilen auch dessen eigentlichen Fokus, beispielsweise Kennedy selbst oder den Nachfolger Johnson. Der Künstler äußerte sich in einem Interview über dieses Verfahren: »In den […] Köpfen, die ich von Jacqueline Kennedy machte […], ging es darum, ihr Gesicht zu zeigen sowie den Ablauf der Zeit vom Augenblick, als die Kugel John Kennedy traf, bis zum Augenblick, als sie ihn bestattete.« Die Ereignisse zeigen sich ausschließlich im Spiegel von Jacquelines Gesicht; das historische Narrativ verwandelt sich in eine Vier-Tage-Biografie. Durch das Herausreißen aus dem situativen Zusammenhang können die Bildreste dem Geschehen nur noch vage zugeordnet werden. Es bleibt nicht viel mehr möglich, als die lachenden Gesichter der Zeit vor dem Attentat und die ernsten, teilweise verschleierten Gesichter der Zeit danach zuzuordnen.
Seine Ausschnitte klebt Warhol ohne Rücksicht auf deren Chronologie in zwei Reihen untereinander, wobei das Ergebnis in Format und Aussehen jenen Fotokabinen-Streifen aus jeweils vier Bildern gleicht, die er kurz zuvor als Vorlagen für seine frühesten Auftragsporträts zu fertigen begann. Dieser Bildblock wird fotomechanisch vergrößert und zu einem Drucksieb von zweihundert mal 160 Zentimetern verarbeitet, was bei den Einzelbildern ein Format von jeweils fünfzig mal vierzig Zentimetern erzeugt. Warhol lässt zudem ein weiteres Sieb fertigen, das die Bilder seitenverkehrt zeigt. In der Umwandlung der fotografischen Vorlagen zum Drucksieb wird die Bildqualität zielstrebig verschlechtert, der Kontrast übersteuert und die Körnigkeit erhöht; die entsprechende Anweisung an das Labor, die Bilder »very Black+White« zu verarbeiten, notiert Warhol auf der Vorlagencollage. Die zu bedruckenden einzelnen Leinwände werden in Gold, Blau oder Weiß grundiert und ebenfalls im Format von fünfzig mal vierzig Zentimetern gerahmt. Die verwendeten Farben verleihen der Serie einen feierlichen, beinahe heraldischen Klang, der sich innerhalb von Warhols OEuvre deutlich abhebt. Vielleicht stellt er einen Reflex auf die damals weit verbreitete Meinung dar, nie seien ein Präsident und seine First Lady dem so nahe gekommen, was in Europa die Königshäuser seien. Beim Druckvorgang, den Warhol nur gemeinsam mit seinem Assistenten Gerard Malanga durchführen konnte, wurde das großformatige Sieb fixiert und bis auf das zu druckende Bild abgedeckt. Die gerahmten Leinwände wurden von unten herangedrückt, während die schwarze Drucktinte durch das Sieb gepresst wurde. Die hierbei zu beobachtende Nachlässigkeit, die Tinte ungleich zu verteilen, das Sieb kaum zu reinigen und schiefe Drucke hinzunehmen, steht in derselben ästhetischen Funktion wie die Entkontextualisierung der Bildschnipsel und deren fototechnische »Verschlechterung«: Die ursprünglichen Motive verlieren dadurch ihren journalistisch- dokumentarischen Wert, statt dessen erhalten die Bilder jene ambivalente Oberflächenerscheinung, wie sie Werke der Hochkunst auszeichnet.
Jackie (The Week That Was) ist nicht nur eines der frühesten Bilder der Serie, sondern das einzige Werk, das alle sechzehn (je acht seitenrichtige und seitenverkehrte) Bildvarianten und zugleich alle drei benutzten Farben aufweist. Indem es das vollständige Bildarsenal vorführt, aus dem sich alle weiteren Werke der Bilderfolge speisen, wird es gewissermaßen zum Referenzwerk der Serie. Dabei entfalten die sechzehn Tafeln ein intrikates Spiel von Identität und Differenz. So werden die Bilder in spiegelsymmetrische Varianten aufgespaltet, die teilweise auf die gleiche, teilweise auf andere Farben gedruckt wurden. Des Weiteren liegt dem Viererblock rechts unten dieselbe Fotografie zugrunde, die jedoch unterschiedlichen Presseveröffentlichungen entnommen wurde. Was wie ein Zoom auf Jacqueline Kennedys Gesicht wirkt, verdankt sich allein dem unterschiedlichen Format der Bildvorlagen, so dass die zwischen Ereignis und Wahrnehmung liegende mediale Zwischenschicht sich hier besonders deutlich manifestiert. Warhols Verfahren lässt aber nicht nur Identisches different erscheinen, sondern umgekehrt identisch werden, was als different zu erwarten wäre. Das betrifft insbesondere das Format der einzelnen Tafeln, das unberührt von dem jeweils Gezeigten stets gleich bleibt.
Das arbiträre Moment in der Gestaltung der einzelnen Tafeln setzt sich in der Anordnung zum Gesamtbild fort. Vor allem missachtet sie, was für die sinnfällige Narration eines Historienbildes entscheidend ist: die chronologische Reihenfolge. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Anordnung der spiegelbildlichen Bildpaare Viererblöcke entstehen lässt, die jeweils einer Zeitstufe im Geschehensablauf entsprechen. Der Viererblock oben links zeigt die lachende Jackie, aufgenommen bei der Ankunft auf dem Dallas Love Field Airport sowie kurz danach bei der Fahrt durch Downtown Dallas. Die chronologisch anschließenden Tafeln, die Jackie noch am selben Tag bei der Vereidigung Johnsons an Bord der Air Force One zeigen, befinden sich nun aber nicht rechts daneben, sondern diagonal versetzt rechts unten. Damit werden beide möglichen Leseordnungen des Bildes hinfällig, sowohl eine im Uhrzeigersinn als auch eine nach »Textzeilen«. Die zeitlich nachfolgenden Tafeln platzierte Warhol in der rechten oberen Ecke; sie halten in zwei voneinander leicht abweichenden Kameraperspektiven den Augenblick fest, an dem sich die Präsidentenwitwe zum ersten Mal nach dem Attentat öffentlich zeigt, als sie den Portikus des Weißen Hauses betritt, um Kennedys Sarg zum Kapitol zu begleiten. Im Viererblock unten links schließlich sieht man auf der linken Seite die verschleierte Witwe, die den Trauerzug zur St. Matthew’s Cathedral anführt, und rechts, wie sie das Gotteshaus nach der Totenmesse wieder verlässt. Jackie (The Week That Was) weist also folgendes Datums-Schema auf:
22. 22. 24. 24.
22. 22. 24. 24.
25. 25. 22. 22.
25. 25. 22. 22.
Das politisch und historisch höchst bedeutsame Geschehen der Ermordung des amerikanischen Präsidenten verkürzt Warhol folglich nicht nur auf die Wandlungen von Jaqueline Kennedys Gesichtsausdruck, auf ein biographical picture von Fröhlichkeit und Trauer. In einem zweiten Schritt nimmt der Künstler dieser bereits minimierten Geschichte auch noch ihre zeitliche Folgerichtigkeit.