Giacometti Matisse Porträt letzte Bildnisse

Giacometti Matisse als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 966 KB)

Asymmetrie von Blick und Hand: Ein Nachwort zur künstlerisch-existenziellen Konstellation in Giacomettis Matisse-Zeichnungen

in: Cresceno, Casimiro di: Im Hotel Régina. Albert Giacometti vor Matisse. Letzte Bildnisse, Fondation Giacometti Paris, Bern/Wien 2015

»Ich gehe ans Fenster, ich schaue hinaus in die Nacht,
schwarze Berge, sternenglänzender Himmel, rauschendes Wasser.
Oh ja, auch die Menschen leben weiter, wie die Blumen,
nie ganz gleich, doch sie malen Bilder, und das ändert alles.«

(Alberto Giacometti)

Kapitel I

Die Porträtzeichnungen, die Alberto Giacometti im Sommer und Herbst 1954 von Henri Matisse schuf, sind exemplarisch für Giacomettis Zeichenkunst. Zugleich aber prägt sie ein eigentümlicher Exzess: Ein bestimmtes Moment darin überschreitet das Kraftfeld von Giacomettis Kunst, das oft und eindringlich vermessen wurde – gerade auch von Schriftstellern, die für dessen Bildkunst sprachliche Äquivalente fanden, welche das Verständnis des Künstlers bis heute bestimmen. Der Exzess hat einen rasch genannten und doch komplexen Grund. Giacometti zeichnete hier jemanden, der war wie er selbst: einen Jahrhundertkünstler und überdies grandiosen Zeichner. Und er porträtierte zugleich jemanden, der nicht war wie er selbst. Damit sei nicht angespielt auf Matisse’ Kunst von calme, luxe et volupté, die mit ihrem eleganten, ornamentalen Strich völlig anders ansetzt als diejenige Giacomettis. Vielmehr bezieht es sich darauf, dass sich Matisse zum Zeitpunkt, als Giacometti ihn zeichnete, auf der Schwelle zu einem anderen Raum befand, der bereits seinen Schatten auf ihn warf. Die Porträtsitzungen ereigneten sich in einem Augenblick, als Matisse, betagt und krank, sein eigenes künstlerisches Arbeiten aufgab, und weniger als zwei Monate nach den letzten Bildnissen war Matisse tot. Die zwischen dem Zeichner und dem Gezeichneten bestehende Symmetrie, als Gegenübersituation zweier großer, sich wechselseitig respektierender Künstler, kippte in eine künstlerische wie zugleich existenzielle Asymmetrie: in die Asymmetrie zwischen der energischen Aktivität, die Giacomettis Zeichenkunst auch hier prägt, und jener Passivität, in die sich Matisse nicht nur aufgrund der Porträtsituation gezwungen sah, sondern in die er sich jetzt überhaupt schicken musste.

Alberto Giacometti Kapitel I
Fondation Giacometti Kapitel II
Kapitel III
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