Giacometti Matisse Porträt Gegenüber Konflikt

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Asymmetrie von Blick und Hand: Ein Nachwort zur künstlerisch-existenziellen Konstellation in Giacomettis Matisse-Zeichnungen

in: Cresceno, Casimiro di: Im Hotel Régina. Albert Giacometti vor Matisse. Letzte Bildnisse, Fondation Giacometti Paris, Bern/Wien 2015

Kapitel III

Das meiste hiervon, und natürlich etliches mehr, ließe sich über Giacomettis Porträtzeichnungen generell sagen – Zeit also, sich dem Besonderen genau dieser Matisse geltenden Porträtserie zuzuwenden: der Besonderheit der Situation und der Besonderheit der künstlerischen Resultate.

Während Giacometti es liebte, über lange Zeit wiederkehrend mit denselben Modellen zu arbeiten, und während er diese Porträtierungen üblicherweise aus freien Stücken vornahm, handelte es sich hier weder um eine selbst gewählte noch um eine vertraute Konstellation, sondern um einen hochoffiziellen Auftrag im Hinblick auf ein hochoffizielles Ziel – ebenjene zu prägende Ehrenmünze. Eine solche Situation empfand Giacometti gleichwohl nicht als negative Einschränkung. Wenn er einen Auftrag annehme, so Giacometti, versuche er, möglichst nahe beim Thema zu bleiben; er erbitte keine Freiheit, denn die thematische Eingrenzung störe ihn nicht, sondern sei durchaus willkommen.

In der Schilderung, die Giacometti Gotthard Jedlicka über die Porträtkonstellation gab, tritt das Intrikate genau dieses Auftrages nun aber in aller Deutlichkeit heraus. Von starken und zumeist negativen Gefühlen ist die Rede, und sie resultierten unmittelbar aus jener eingangs genannten Symmetrie zweier sich gegenübersitzenden Künstler, die sich aufgrund der unterschiedlichen biografischen Situation in eine existenzielle Asymmetrie wandte: in die Asymmetrie zwischen Aktivität und Passivität, zwischen einer auf die Zukunft hin offenen und einer auf die Vergangenheit zurückgeworfenen Gegenwart. Er habe sich, so Giacometti nach Jedlickas Zeugnis, wesentlich deshalb unwohl gefühlt, weil Matisse sich so schwer damit getan habe, untätig dabei zuzusehen, wie ein anderer zeichne – und zwar nicht irgendetwas, sondern gerade ihn in seiner sehr besonderen Untätigkeit. Matisse, der selbst über sein gesamtes Oeuvre am lebenden Modell arbeitete, wurde hier, zu seinem Missvergnügen, vom Subjekt zum Objekt eines Zeichenaktes. Umso entschiedener, wie sich Giacomettis Bericht über die Porträtsituation weiter entnehmen lässt, versuchte Matisse, trotz seiner Hinfälligkeit als aktiver Mensch zu erscheinen. Er verkündete Giacometti gleich zu Beginn, er habe wenig Zeit, und er bemühte sich, das Modellsitzen zu einer Arbeit eigener Art zu machen, die es entsprechend gut zu leisten galt.

Giacomettis Zeichnungen porträtieren nicht nur Matisse, sondern erfassen ebenso eindrücklich die aufgeladene Atmosphäre ihrer Entstehung. Eine der frühesten Zeichnungen der Sequenz, möglicherweise gleich am ersten Tag der Porträtsitzungen entstanden, zeigt Matisse, wie er das Einsinken in den eigenen, immobil gewordenen Körper mit einem Blick kompensiert, der sich geradezu drohend auf sein Gegenüber richtet (s. Kat. 6). Der eigentümlich aus der Axialität des Körpers herausgeschobene Kopf erweckt hierbei den Anschein, als wolle Matisse sein Gegenüber im nächsten Augenblick anfallen. In anderen, während der nachfolgenden Tage entstandenen Zeichnungen führt der Blick des greisen Künstlers hingegen in ein ungreifbares Außen des Bildes. Die Blätter vermitteln den Eindruck, als habe er seinen Frieden mit der Situation geschlossen. Doch der Schein trügt, das Unwohlsein nahm wieder Überhand, und Matisse brach die Sitzungsfolge nach dem 6. Juli 1954 ab.

Zwei Monate vergingen, bis er Giacometti erneut zu sich bat. In der Zwischenzeit hatte Matisse das Domizil gewechselt, vom Hotel Régina in Nizza zog er in ein Landhaus in der Nähe von Saint-Paul-de-Vence um. Als Giacometti im September 1954 dort eintraf, begegnete er einem Menschen, der ihm, wie er gegenüber Jedlicka festhielt, nicht nur endgültig alt geworden erschien, sondern der – für unseren Zusammenhang bedeutsamer – inzwischen endgültig akzeptieren musste, nicht mehr arbeiten zu können. Zunächst sah es so aus, als kläre dies die Rollenverhältnisse. Er werde ihm, so Matisse, nun so oft Modell sitzen, wie Giacometti es wünsche. Die wenigen Zeichnungen, die nun entstanden, sind bemerkenswert abgeklärt, die Physiognomie wirkt weicher und entspannter, der Blick führt unangestrengt ins Offene, und der andere Tonus des Modells scheint sich auch auf Giacomettis Strich auszuwirken, der hier weicher und schwingender ausfällt als in den meisten anderen Blättern der Sequenz. Diese Gelassenheit sollte allerdings nicht von Dauer sein. Matisse verlor, obschon er hartnäckig darum rang, die Selbstbeherrschung und brach erneut – und diesmal endgültig – das Modellsitzen ab. Zu sehr habe Matisse die Verzweiflung ergriffen, so Giacometti gegenüber Jedlicka, als er ihn, Giacometti, habe zeichnen sehen.

Tiefes Schweigen umhüllt die Zeichnungen, und tatsächlich hält Giacometti in seinem Bericht fest, es sei kaum gesprochen worden – ganz im Unterschied zu seiner Gewohnheit, beim Porträtieren durchaus redselig zu sein. Umso harscher, was Matisse Giacometti in dieses Schweigen hinein entgegenschleuderte: Niemand könne zeichnen, und auch er, Giacometti, werde es nie richtig können. Als weitere Negation von Giacomettis Arbeit verkündete Matisse bei der ersten Sitzung, er wolle die Ergebnisse nicht sehen, denn nur so könne Giacometti unbefangen fortfahren und er unbefangen weiter Modell sitzen. All dies weist darauf hin, wie massiv hier das Porträtdispositiv – auf der einen Seite der zeichnende Künstler, auf der anderen die porträtierte Person – von antagonistischen psychischen Kräften durchzogen wird. Verschärft wurde die schwierige Konstellation durch Giacomettis Eigenart, das jeweilige Gegenüber als etwas Fremdes, ja Unheimliches zu empfinden und es dementsprechend auszuforschen. Das führte nicht zuletzt zu einem signifikanten Unterlaufen des Auftrages der staatlichen Münze, der darin bestand, einen der berühmtesten Künstler Frankreichs als ein solcher ins Bildnis zu setzen. Weder das Künstlersein noch die Berühmtheit seines Gegenübers werden in Giacomettis Zeichnungen thematisch, die in ihrer seismografischen Notation ausschließlich festhalten, was zu sehen ist, aber nichts davon, was lediglich gewusst werden kann.

Den Zeichnungen schreibt sich indessen nicht nur Matisse’, sondern auch Giacomettis Unwohlsein ein. Denn während er zeichnete, wurde er selbst zum Objekt eines Blicks: des bohrenden Blickes Matisse’, und nicht wenige der Zeichnungen arbeiten sich genau daran ab, was es heißt, unter einem solchen Blick seinem porträtierenden Tun nachzugehen. Diesbezüglich stellen die am 5. Juli gezeichneten Blätter einen Höhepunkt dar. Es handelt sich um eine Gruppe von Zeichnungen, deren am weitesten ausgeführte die hieratische Gestalt Matisse’ im Bett sitzend zeigt (s. Kat. 20). Vor Matisse steht ein Krankentischchen, auf dem seine rechte Hand so aufliegt, als wolle sie gleich zu zeichnen beginnen. Die Figur wird von Horizontalen und Vertikalen in einer Weise umgrenzt, dass eine entfernte Ähnlichkeit zu Francis Bacons zeitgleich entstehenden Papst-Gemälden spürbar ist – allerdings mit der wichtigen Differenz, dass die Figur nicht wie bei Bacon im Dreiviertelprofil gezeigt wird, sondern insbesondere Kopf und Blick in eine strikte, konfrontativ wirkende Frontalität gewendet sind. In der Augen-, Nasen- und Mundpartie konzentriert sich die Figur, ja dort scheint sich sogar der Kopf, der ohnehin sämtliche Bildkräfte in sich zusammenzieht, noch einmal zu verdichten: Die – nur zu ahnenden – Augen gleichen Kontraktionen des Brillenrundes, und der Mund, dessen Physiognomie unklar bleibt, wiederholt mit seinen geschwungenen Linien die Rundungen der Kinn- und Bartpartie. Es scheint, als säße im Inneren des Kopfes ein zweiter, kleinerer Kopf, der lauernd durch die Maske des äußeren hindurchblickte. Parallel laufende Schrägen der Ohren, der Stirn, der Augenbrauen sowie der Nasenflügel sekundieren dem manifesten, aber aus dem Verborgenen kommenden Blick mit einer plastischen Zuspitzung des Gesichtes zum Betrachter hin. Vorstoß und Rückzug, Zuwendung und Sich-Verschließen, Macht und Ohnmacht, Selbstbeherrschung und Aggressivität gerinnen in dieser Gestalt zu einer einzigen Form. Am gleichen Tag, sei es als Weiterarbeit am selben Motiv, sei es zu dessen Vorbereitung, entstanden mindestens drei weitere Zeichnungen, die sich ausschließlich jener prägnanten Konstellation von Auge, Nase und Mund widmen (s. Kat. 12, 17, 18, 19). Durch die Rundungen der Brille, hinter der keine Augen sichtbar werden, blickt uns hier das Blattweiß selbst an. Die ausgesparten Rundungen der Brille, als genau konturierte Löcher im Gefüge der Physiognomie, werden zum Ort, wo die Blicke der beiden Künstler und die zeichnende Hand Giacomettis aufeinandertreffen, und es ist bezeichnend, dass dieser Treffpunkt zusammenfällt mit dem weiß gelassenen Blatt als dem materiellen Grund des Zeichenaktes – mit jenem Medium also, das damals, im Sommer und Herbst 1954, die beiden Künstler ebenso verband wie trennte.

Kapitel I
Kapitel II
Alberto Giacometti Kapitel III
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