Vom Raum in der Fläche des Modernismus als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 1.120 KB)
Vom Raum in der Fläche des Modernismus
in: fRaktur. Gestörte ästhetische Präsenz in Avantgarde und Spätavantgarde, hrsg. von Anke Hennig, Brigitte Obermayr und Georg Witte (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 63), Wien/München 2006, S. 149-178.
Kapitel I: Das Bild als Möbiusband zwischen Materialität und Immaterialität
Ein Kunstwerk im Lichte seiner Faktur zu betrachten heißt, es im Lichte seines Gemachtseins zu betrachten: das Verbalabstraktum „faktura“ bezieht sich auf „factus“ wie „natura“ auf „natus“. Die Faktur ist folglich nicht nur ein bestimmter Oberflächenzustand, sondern zugleich die Spur eines Machens, dessen Verlaufsform womöglich mehr interessiert als das Ergebnis. Sich der Faktur zuzuwenden heißt aber auch, der Materialität des Kunstwerks Bedeutung beizumessen. Hier sind ebenfalls zwei unterschiedliche Gewichtungen möglich. Entweder interessiert man sich für die Stofflichkeit des Ausgangsmaterials, beispielsweise für den Feinheitsgrad des verwendeten Leinwandstoffs oder die Viskosität der benutzten Farben, oder aber für die bearbeitete Materialität des Artefakts, etwa für jenen drängenden, reliefierenden Pinselduktus, der van Goghs Gemälde auszeichnet. Somit umschließt der Begriff der Faktur im Werk angelegte Spannungen, einerseits diejenige zwischen Prozess und Werk, andererseits diejenige zwischen Materialität und Form. Dass der Begriff der Faktur erst im Zuge der (insbesondere russischen) Avantgarden geläufig wurde, dürfte unmittelbar damit zusammenhängen, dass die genannten Spannungen hier erheblich anwachsen, bis zu dem Punkt, an dem Prozess und Werk, Materialität und Form im Kunstwerk beständig gegeneinander bestimmt werden müssen: als Aspekte ein und desselben Bildes, die zwar unterscheidbar, nicht aber voneinander zu trennen sind. Die Entstehung des Fakturbegriffs weist ferner darauf hin, dass Augen- und Tastsinn miteinander zu konkurrieren beginnen. Das Bild präsentiert sich nicht nur als transzendente Fläche, die einen virtuellen Sehraum eröffnet, sondern zugleich als reale Oberfläche, deren Beschaffenheit häufig gerade darauf zielt, das Auge der Kontrolle des Tastsinns, an den das Bild appelliert, zu unterwerfen. Wenn dieser Sammelband überdies vorschlägt, den Begriff der Faktur mit demjenigen der Fraktur zu verbinden, weist dies schließlich noch auf eine weitere Spannung hin: dass im Werkprozess avantgardistischer Kunst Schöpfung und Zerstörung häufig ein und derselbe Akt sind. Das mögliche Zusammenfallen von Kunstentstehung und Kunstvernichtung bezieht sich dabei nicht nur auf die Konzeption bestimmter Verfahren (beispielsweise der Fotomontage), sondern zugleich auf das historische Verständnis der Avantgarde, mit jedem Werk den bisherigen Kunstbegriff zu sprengen oder sogar zu versuchen, mit der Setzung eines ‚letzten Werkes‘ die Kunst insgesamt zu einem Ende zu bringen.
Diese unterschiedlichen Spannungen verdichten sich bei Bildern an einem konkreten Ort, der sich gleichwohl fortwährend entzieht: an ihrer Oberfläche. Bereits das Wort ‚Oberfläche‘ verweist dabei auf die Ambiguität des Bildes, die sich im Fortschreiten der Moderne immer entschiedener artikuliert. Deren anti-illusionistische Wende lässt das Bild immer ausdrücklicher mit seiner Oberfläche zusammenfallen. Zugleich aber ist es nur sinnvoll, von einer Oberfläche zu sprechen, wenn es auch etwas gibt, was darunter liegt. In der Bildauffassung Clement Greenbergs, des amerikanischen Vordenkers einer formalistischen Deutung des Modernismus, tritt jene Ambiguität des Bildes in exemplarischer Weise hervor. Auf der einen Seite erhebt Greenberg das Medium des Bildes – den Bildträger und die Malmaterie – zu dessen zentralem Aspekt. Der Modernismus sei das künstlerische Verfahren, sich beständig einer Kritik von innen her zu unterwerfen – einer Kritik, die darauf ziele, die Natur des jeweiligen künstlerischen Mediums zu größtmöglicher Reinheit zu führen und auf diese Weise die einzelnen Künste in ihrem ureigenen Kompetenzfeld zu verankern. Greenberg sieht die modernistische Wendung der Malerei folglich dort als vollzogen an, wo die immanenten und essenziellen Qualitäten dieses Mediums – die plane Oberfläche, der Umriss des Bildträgers und die Eigenschaften der Farbstoffe – offen herauszutreten vermögen. Für Greenberg bedeutet dies nun aber keineswegs das Ende des Illusionismus in der Malerei, sondern lediglich das Ende des klassischen, von haptischen Assoziationen überlagerten Illusionismus, wie ihn als äußerster Fall das Trompe-l’œil zu erzielen versuche. Als der Modernismus das Schattieren und Modellieren und alle anderen herkömmlichen Verfahren in Frage stellte, die in der Malerei an das Skulpturale erinnerten, sei dies, so Greenberg, „im Namen einer rein und ausschließlich optischen Erfahrung“ geschehen. Dadurch erziele das modernistische Bild eine Präsenz, die der traditionellen Kunst verwehrt gewesen sei. Aufgrund des ausschließlich optischen Durchstoßens der Bildfläche wandere das Auge im Trugbild eines Raumes, der nicht mehr jener auf den Körper bezogene Partialraum der herkömmlichen illusionistischen Kunst sei, sondern sozusagen Raum schlechthin: „Die Bildfläche als totales Objekt repräsentiert Raum als ein totales Objekt.“ Greenbergs Kurzschluss zwischen diesen beiden ‚Objekten‘ bringt die Ambiguität des modernistischen Bildes auf den Punkt. Auf der einen Seite verdinglicht sich das Bild zur materiellen Oberfläche, die dem Realraum angehört wie jeder andere Gegenstand auch – was nach Greenberg dazu führt, dass bereits eine aufgespannte leere Leinwand als Bild aufgefasst werden kann. Andererseits wird die Bildfläche zu einem immateriellen, transzendenten Ort. In Greenbergs Beschreibung erinnert sie an jenes „Aleph“ in Jorge Luis Borges‘ gleichnamiger Erzählung, an jenen magischen Punkt im Raum also, der alle Punkte in sich enthält und in dem sich die Totalität des Universums kontemplieren lässt.
Die extreme Spannung zwischen der planen Leinwand einerseits und der eröffneten (oder zumindest angestrebten) Totalitätserfahrung andererseits führte allerdings zu einer erheblichen Verminderung der semantischen, syntaktischen und pragmatischen Möglichkeiten der Malerei. Deren Spielfeld verengte sich auf die Oberfläche – eine Oberfläche zumal, deren Erfahrungspotenzial umgekehrt proportional zur Intensität ihrer Bearbeitung zu stehen schien, wie Greenbergs Verweis auf die leere Leinwand als Bild nahe legt. Es ist offensichtlich, dass die ‚essenzialisierende‘ Askese der Malerei – die Beschränkung auf die Oberfläche und die Minimierung der malerischen Bearbeitung – nicht nur von den Betrachtern, sondern auch von den Künstlern als Verlust empfunden werden konnte. So sprach Kandinsky beispielsweise vom „Annageln der Möglichkeiten an eine reale Fläche der Leinwand“ und empfand dies als Beschränkung. Diese Kehrseite des Modernismus war auch Greenberg bewusst. Während man, so Greenberg, bei der klassischen Malerei durch die Fläche wie durch ein Proszenium auf eine Bühne geblickt habe, sei diese Bühne im Modernismus immer flacher geworden, bis schließlich die Kulisse mit dem Vorhang zusammengefallen sei. Doch ganz gleich wie reich und verschiedenartig die Künstler nun diesen Vorhang, der ihnen als Einziges übrig geblieben sei, bearbeiteten und falteten, ein Gefühl des Verlusts sei unausweichlich. Was den Betrachter an der gegenwärtigen, abstrakt oder sogar ungegenständlich gewordenen Kunst kümmere, sei weniger die Verzerrung oder gar die Abwesenheit von wieder erkennbaren Bildern. Es sei vielmehr die Aufhebung jener räumlichen Rechte („spacial rights“), welche die Maler dem Betrachter gewährten, als sie noch Illusionen desjenigen Raumes schufen, in dem auch unsere Körper sich bewegten.
Dieses Schwinden des Raumes bildet den Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen. An ein paar Beispielen möchten sie zeigen, wie parallel zur Entwicklung der modernistischen ‚flatness‘ Wege gesucht wurden, den zunehmenden Druck auf die Oberfläche des Bildes aufzufangen und zu brechen, um die verlorene ‚Bühne‘ wiederzugewinnen, auf der sich der Akt des Bildermachens wie auch die Vorstellungskraft des Betrachters neu entfalten konnten. Es ging dabei nicht zuletzt um die Rückeroberung jenes körperlichen Handlungsraumes, den Greenbergs ‚reine Optikalität‘ ausgeschlossen hatte. Die Beispiele sollen weder eine Entwicklungslogik behaupten noch die künstlerischen Möglichkeiten systematisch auffächern. Vielmehr geht es um die exemplarische Beschreibung von Verfahren, dem Bild unter modernistischen Bedingungen dasjenige zu erhalten, was Frank Stella den „working space“ der Kunst nannte. Nach Stella besteht das Ziel der Kunst darin, Raum zu schaffen – einen Raum, in dem nicht nur sich die Dinge entfalten können, sondern in dem die Kunst selbst agieren kann. Da die Künstler jedoch hinter die modernistische Verflächigung und Materialisierung des Bildes weder zurückgehen konnten noch wollten, suchten sie diesen Raum nicht wie in der klassisch-illusionistischen Malerei hinter, sondern sozusagen im Inneren der Bildoberfläche. Es wird zu beschreiben sein, wie mit Schnitten in die Leinwand oder aber mit Verdoppelungen ihrer Fläche, sei es durch Daraufgeklebtes, Dahintergespanntes oder Darübergelegtes, eine Art Binnenraum des Bildes geschaffen wird, der jeweils sowohl einen buchstäblichen Raum als auch eine imaginäre Tiefe erzeugt, wobei die Pointe häufig darin besteht, beides gegeneinander auszuspielen.