Edouard Manet Blick Bildraum Komposition

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Bild und Blick in Manets Malerei

Berlin: Gebr. Mann Verlag 2003

Einleitung: Bild und Blick im Zeichen künstlerischer Autonomie

„Es ist wirklich ein geheimnisvolles Tausch-Zeremoniell, das seinen letzten Schritt vollzieht, wenn der Spaziergänger scheinbar ohne Grund vor einem Bild stehenbleibt und es betrachtet.“ (Louis Marin)

Im Musée imaginaire hat Manet einen sicheren Platz. Hören wir seinen Namen, erscheinen Bilder vor dem inneren Auge: Olympia, Déjeuner sur l’herbe, Un bar aux Folies-Bergère. Ebenso schnell drängen sich Wörter auf: Modernität, Skandal, Zweites Kaiserreich, Paris; oder: Realismus, Flächigkeit, impressionistischer Pinselstrich. Diese Wörter sind gleichzeitig zutreffend und unzureichend. Manets Œuvre entspricht ihnen tatsächlich, und man könnte sogar sagen, es sei in inhaltlichem wie formalem Sinne platt: Olympia, das ist eine schnörkellose Malerei der Tatsachen, ein Bild ohne Tiefe, mit einer Figur flach wie eine Spielkarte, gemalt mit hellen, klaren, oft nur als Flecken aufgetragenen Farben. Doch es mögen sich Zweifel einstellen. Die Erscheinung der Bilder stimmt nicht mit einem Sprechen überein, das soviel Einfachheit und Eindeutigkeit suggeriert. Ist Manets Malerei modern, pariserisch, skandalös? Ist sie realistisch oder impressionistisch? Sie ist es – aber auch etwas mehr oder etwas weniger. Eher geht sie von diesem oder jenem aus, um etwas anderes entstehen zu lassen. Mit einem Wort: Sie ist zwiespältig. Manet strebte nach ’skandalöser Modernität‘, suchte aber zugleich die Rückversicherung bei den Alten Meistern, vor allem bei „maître Velásquez“, wie er ihn nannte. Die Bilder sind häufig alles andere als realistisch oder impressionistisch, und die modernen Sujets, ein mondäner Wintergarten, ein Ausblick auf eine Eisenbahntrasse, eine Bar in einem Vergnügungslokal, erscheinen oftmals gar nicht als das eigentliche Darstellungsziel, sondern als Gefäß für etwas Ungreifbares, Flüchtiges, schwer Faßbares. Manets Œuvre provoziert eine Sprecharbeit, deren erste Aufgabe darin besteht, die sich aufdrängenden Wörter zurückzuweisen, sobald man ihre beschränkte Bestimmungskraft erkennt.
Das Sujet der Bilder ist der Blick. Oft ist er das einzige, was in ihnen ‚geschieht‘, ihre eigentliche ‚Handlung‘. Von Anfang an suchte Manet nicht nur das Bild des Menschen, sondern seinen Blick. Seine Neugier richtete sich dabei auf jenen leeren Moment, in dem ein Mensch nicht zu blicken weiß. Eine Art suspense entsteht: Was mögen sie in diesem Augenblick denken? Die andere, gleichermaßen beunruhigende Frage ist: Was sehen sie? Auf beides geben die Bilder keine Antwort. Meistens blicken die Figuren in einen Raum, der jenseits der Bildgrenzen liegt und den wir folglich nicht einsehen können; auch die gezeigten Situationen lassen kaum Rückschlüsse zu. Manet fängt Augenblicke des Übergangs ein, blinde Stellen, in denen die Menschen nicht ganz bei sich, noch nicht einmal ganz da sind. Es handelt sich um ‚Anti-Momente‘ des Daseins, die zwar herausgehoben sind, in denen sich aber nichts entscheidet. Der Blick macht die Menschen auf eine radikale Weise einsam, er wirkt wie ein ‚Fluchtpunkt‘ inmitten des Bildes, in dem Raum und Zeit verschwinden. Wer Manets Figuren ins Auge sieht, entdeckt darin weniger die Fülle des Seins, als vielmehr die „Nacht der Welt“, die Leere der Subjektivität.
Durch die so häufig aus dem Bild heraus gerichteten Blicke kehren sich die Raumenergien um. Die Bilder eröffnen kaum Tiefe, sondern verriegeln sie durch verschiedene bildnerische Maßnahmen. Stattdessen projizieren sie den Raum nach vorne, zum Betrachter hin. Sie fahren auf ihn zu „wie zuweilen Lokomotiven im Film“, so wie es Theodor W. Adorno an den „modernen Gebilden“ der Kunst beobachtete. Der Schauplatz des Bildes ist infolgedessen nicht nur die schmale imaginäre Bühne, auf die der Betrachter sieht. Vielmehr wird der Raum zwischen Bild und Betrachter zum eigentlichen Schauplatz. Die Bildarchitektur ist gleichermaßen rigide und offen, fest und instabil: ein dynamisches Gleichgewicht. Der Betrachter durchläuft die Bilder, ohne wirklich Halt zu finden, da sein Blick durch die Bildstruktur immer auch zerstreut wird. Er trifft auf Bruch- und Nahtstellen, auf Inkohärenzen und Lücken im Darstellungsgefüge, auf eine seltsame Unübersichtlichkeit trotz der Frontalität der Bildanlage und der Nahsicht auf das, was das Bild ihm zu sehen gibt.
Die kompositorische Struktur der Bilder steht damit in engem, reflexivem Bezug zur Eigenart der Blicke. Im Ineinanderfließen von Konzentration und Zerstreuung, Präsenz und Leere, Zuwendung und Distanzierung treffen sich Bildstruktur und Figurenblick. Wir werden nicht nur Zeugen einer Beziehung zwischen den Figuren, die sich durch gegenseitiges Verfehlen auszeichnet. Auch die Beziehung zwischen Bild und Betrachter scheint als nahsichtiges face-to-face auf Unmittelbarkeit und Wechselseitigkeit angelegt, erweist sich jedoch als asymmetrisch und nicht reziprok. Um Heinrich von Kleists berühmte Formulierung aufzunehmen: Dem Anspruch des Betrachters an das Bild antwortet der Abbruch, den es ihm zumutet. Manets letztes Hauptwerk, Un bar aux Folies-Bergère, führt dies mit seiner Spiegelreflexion zum Höhepunkt. Sie schließt den Betrachter ins Bild ein, zugleich aber, weil im Spiegel ein Anderer erscheint als er selbst, auch aus.

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