Edgar Degas Körper Bewegung Ornament

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Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten in Edgar Degas’ Werkprozess

in: Logik der Bilder. Präsenz – Repräsentation – Erkenntnis. Gottfried Boehm zum 60. Geburtstag, hrsg. von Richard Hoppe-Sailer, Claus Volkenandt und Gundolf Winter, Berlin 2005, S. 35-51.

Kapitel III: Bild und Bewegung

Indem Degas so nahe ans Modell herantritt, unterschreitet er jenen Abstand zwischen Augpunkt und Objekt, den der junge Künstler noch für unabdingbar hielt, um einen Körper zeichnerisch erfassen zu können. Aus dieser Annäherung folgt, dass der Raum den Figuren nicht mehr vorgängig ist, so wie es im frühen Bild der Classe de danse (Abb. 1) der Fall ist. Die gravitätischen Körper dominieren jetzt das gesamte Bildfeld, dessen Mitte sie besetzen und dessen vektorielle Kräfte sie bestimmen, womit es Degas gelingt, Körperbewegung und Bildkomposition wechselseitig auseinander hervorgehen zu lassen. Der umgebende Raum hingegen bleibt eigentümlich amorph, nicht zuletzt deshalb, weil die Körper, zusammen mit den Tüchern, mit denen sie hantieren, die für die Raumorientierung wichtigen Stellen wie Zimmerecken oder Raumkanten verdecken.
Die Annäherung hat weiterhin zur Konsequenz, dass die Bilder meistens etwas zeigen, das von einem einzigen Blickpunkt aus gar nicht zu erfassen ist, sondern vielmehr verschiedene Blickrichtungen eines dynamisierten Sehens ineinander blendet. Im Pastell einer Frau in der Badeschüssel (Farbabb. 5), das Degas auf der achten Impressionisten-Ausstellung 1886 ausstellt, scheint der Augpunkt des Betrachters sowohl einer vertikalen wie einer horizontalen Drift unterworfen. Die Badeschüssel ist eindeutig von oben, der Rücken hingegen frontal gesehen, während das aufgestellte Bein von einer Position weiter rechts aus festgehalten scheint. Die Bewegung des Blicks um die Figur herum erfährt ihre Entsprechung in der kompositorischen Anlage des Blattes, die vom Rund der Schüssel dominiert wird. Damit überlagern sich drei Bewegungen: erstens diejenige eines ungebundenen Blicks, zweitens diejenige der Figur, deren Hand zudem ein Moment von Bewegungsunschärfe einführt, sowie schließlich der Akt des Zeichens, was insbesondere am rechten Bein der Frau sichtbar wird, das Degas in zwei Zuständen festhält. Auf diese Weise wird unentscheidbar, ob jene unterschiedlichen Beinhaltungen eher auf zwei voneinander abweichende Perspektiven oder aber auf ein Variieren der kompositorischen Bild-Organisation zurückzuführen sind. In den Notizheften formuliert Degas ein Arbeitsprogramm, das sich genau dieser Bewegungsüberlagerung widmet und sie an verschiedenen Sujets durchspielt:
„Eine Serie von Bewegungen der Arme beim Tanz machen“, notiert er, „sich selbst darum herumdrehend. Schließlich aus jeder Perspektive eine Gestalt oder ein Objekt, egal was, studieren. […] Um einen Raum herum ansteigende Stufen aufstellen, um das Zeichnen der Dinge von unten und von oben zu üben […]. Für ein Porträt im Erdgeschoss posieren lassen und in der ersten Etage arbeiten, um sich daran zu gewöhnen, sich die Formen und den Ausdruck zu merken und niemals unmittelbar zu zeichnen oder zu malen.“
Dasselbe nimmt er sich auch für Architekturstudien vor:
„Man hat noch niemals Monumente oder Häuser von unten nach oben und von nahem gezeichnet, so wie man sie sieht, wenn man in den Straßen an ihnen vorbeigeht.“
Parallel zu diesen Notizbucheinträgen entstehen einige von Degas‘ bekanntesten Werken, die das entworfene Arbeitsprogramm bildnerisch umsetzen. Zwei Beispiele seien herausgegriffen. 1879-81 arbeitet er an der Wachsplastik der Petite danseuse de quatorze ans. Er bereitet sie durch zahlreiche Zeichnungen vor, die das Mädchen von allen Seiten festhalten, um die unterschiedlichen Aspekte schließlich zu einer plastischen Figur zu verschmelzen, die keine privilegierte Ansicht kennt, sondern für jeden Betrachtungswinkel formal perfekt ausbalanciert wird. Die unterschiedlichen Perspektiven auf die Figur werden von Degas in eine einzige Form eingefaltet, die sich in der Rezeption des Betrachters, wenn er um die Figur herumgeht, wieder in eine Fülle unterschiedlicher Aspekte ausfaltet. Ebenfalls 1879 entsteht das Gemälde Miss Lala au cirque Fernando (Abb. 4), das aufgrund des differenten Mediums auch anders verfährt. Degas‘ Blick richtet sich in die Zirkuskuppel hinauf, womit er der Artistin folgt, die soeben dabei ist, sich an einem Seilzug in die Höhe ziehen zu lassen. Die sich überlagernden Aufwärtsbewegungen von Blick und Figur werden durch suggerierte Drehbewegungen um eine vertikale Achse ergänzt. Die unterschiedlich abgewinkelten Obergadensegmente erzeugen einen Dreheffekt, der entweder einer Betrachterperspektive zugeschlagen werden kann, die sich um die Figur herumbewegt, oder aber der Akrobatin selbst, die, lediglich an einem Punkt aufgehängt, sich um ihre Körperachse dreht. Ja, man könnte sogar davon sprechen, das Bild selbst drehe sich – eine Suggestion, die durch die eingelassenen Fenster, welche das Bild innerbildlich zu wiederholen scheinen, verstärkt wird.
Degas steht jeweils nicht jenseits, sondern vielmehr inmitten des Raums, den er zeigt, und sein Sehen richtet sich nicht nur auf Körper in Bewegung, sondern bewohnt selbst einen Körper, der sich bewegt. Eines der Probleme, das Degas sein ganzes Œuvre hindurch umkreist, ist folglich die Frage, wie diese unterschiedlichen Kräfte bildnerisch zu synthetisieren sind: wie die Momentanität und Kontingenz der Körperstellungen einerseits, der Perspektiven auf diesen Körper andererseits so verschränkt werden können, dass daraus eine Komposition entsteht, die in sich ausbalanciert erscheint, zugleich aber weder das Bewegungspotenzial des gezeigten Körpers noch die Mobilität des Sehens negiert. Man kann sich dieses bildplastische Problem kaum schwierig genug vorstellen, auch deshalb, weil das Bild auf diese Weise von vornherein auf seine Überschreitung hin angelegt ist. Viele von Degas‘ Äußerungen betreffen diese Problematik, zum Beispiel sein berühmter Ausspruch, die Zeichnung sei „nicht die Form, sondern die Art und Weise, die Form zu sehen“, oder die in einem Brief formulierte Maxime, man müsse dasselbe Sujet zehn Mal, ja hundert Mal wiederholen, da nichts in der Kunst dem Zufall gleichen dürfe, nicht einmal die Bewegung.
Die Synthetisierung von Körperbewegung, Sehbewegung und flächenbezogener Bildordnung vollzieht sich in Kompositionen, die bald mehr der Geometrisierung, bald mehr der Ornamentalisierung zustreben. Lineamente bilden sich heraus, die zugleich körper- und dingbezogene Kontur und Verlaufsformen des Blicks sind. Sie verbinden unterschiedliche Gegenstände und Raumebenen miteinander, sei es durch die Fortführung derselben Linie, sei es durch ein Spiel von Formwiederholungen. Miss Lala au cirque Fernando (Abb. 4) ist dafür ein gutes Beispiel. Die Arme, Beine und die Rumpflinie der Akrobatin sind so im Strebewerk der Architektur verankert, dass die Zufälligkeit und Wandelbarkeit des Aspekts, unter dem sich die Szene darbietet, in einer sinnfälligen und doch höchst dynamischen Bildordnung aufgehoben wird. Eine andere Variante zeigt das Pastell einer sich trocknenden Frau (Abb. 3). Degas verbindet die Kontur der Arme und der Schulterpartie zu einer rechtwinkligen, den Raum im Zickzack durchmessenden abstrakten Form. Sie verknüpft sich mit den übrigen Linien des Bildes, der Raumkante und dem Pantoffel links, der Sessellehne und der Badewanne rechts, zu einem Diagonalennetz, das zwar fest gefügt wirkt, zugleich aber frei und beweglich in den Bildraum „gehängt“ erscheint.
Wiederum anders verfahren die mehrfigurigen Tänzerinnen-Bilder (Farbabb. 6). Die häufig nur ausschnitthaft gezeigten Körper werden so dicht zueinander geschoben, dass sich die einzelnen Körperglieder verflechten. Dadurch entsteht jenes raumzeitliche Ornament, das Valéry am Tanz beobachtete, dessen Beschreibung aber umstandslos auf Degas Bilder übertragbar ist:
„Indem dieselben Glieder“, so Valery, „sich verschränken, entfalten und wieder verschränken oder Bewegungen in gleichen oder harmonischen Zeitabständen einander antworten, entsteht ein Ornament im Bereich der Dauer, wie durch die Wiederholung von Figuren im Raum oder von ihren Symmetrien das Ornament im Bereich der Ausdehnung entsteht.“
Die annähernd spiegelbildliche Entsprechung zweier Figuren, so wie wir sie in diesem Pastell (Farbabb. 6) bei den beiden zentralen Figuren antreffen, finden wir bei Degas häufig. Fast immer handelt es sich um contraposto-Haltungen, bei denen der Kopf in die Gegenrichtung zum Körper gewendet ist. Spiegeln sich zwei contraposto-Figuren ineinander, entfalten sie ein komplexes Spiel zwischen Abstoßung und Anziehung, Übereinstimmung und Differenz. Zugleich begegnen wir einem weiteren Fall jener innerbildlichen Reflexion, die auf anderer Ebene bereits bei Miss Lala au cirque Fernando zu beobachten war. Denn die wechselseitige Spiegelung der Tänzerinnen führt zu einer mise en abîme des Bildes. An der Nahtstelle zwischen den beiden Figuren, die wie eine quer durch den Raum führende Spiegelachse wirkt, scheint sich das Bild zu verdoppeln. Es enthält sich gewissermaßen selbst, was zur Folge hat, dass die Grenze zwischen Wirklichkeit und Bild verwischt wird. Gleichzeitig führt uns dieses Phänomen zum Arbeitsprogramm zurück, das Degas in seinem Notizbuch festhält. Denn im Zuge der Überlegungen, wie er die bewegte Körperlichkeit von Maler und Modell in die fixierte Einansichtigkeit des Bildes übertragen könnte, nimmt er sich die Verwendung von Spiegeln vor, und zwar nicht nur aus praktischen Erwägungen, sondern ebenfalls, um den Illusionismus des Bildes zu brechen. Dem Vorsatz, eine Figur aus jeder Perspektive zu studieren, fügt er hinzu, man könne sich dafür eines Spiegels bedienen, da man sich dann nicht vom Platz zu bewegen habe. Man müsse sich dann lediglich am Platz selbst niederbeugen oder sich zur Seite neigen, dadurch bewege man sich schon um sie herum. Einige Seiten später ergänzt er, man solle die Dinge nur als im Spiegel Gesehene zeichnen, um sich daran zu gewöhnen, „das Trompe-l’œil zu hassen“.

Kapitel I: Einleitung
Kapitel II: „Le vague“
punkt Kapitel III: Bild und Bewegung
Edgar Degas - Pfeil Kapitel IV: Sehen und Berühren
Kapitel V: Die Metonymie des künstlerischen Aktes
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