Selbstbild oder Weltbild? Zur Ähnlichkeit zwischen Claude Monet und Clyfford Still
in: Monet … bis zum digitalen Impressionismus, Katalog Fondation Beyeler, München/New York 2002, S. 180-189.
Abschnitt I
Monets breitgestreckte Nymphéas aus den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und Clyfford Stills abstrakte Grossformate, die seit den späten 1940er Jahren entstanden, weisen Ähnlichkeiten auf, die bereits für Stills Zeitgenossen augenfällig waren. In den Nymphéas entwickelte Monet eine gegenüber seinen früheren, noch am Blick in die Tiefe des Raums ausgerichteten Bildern radikalisierte Malerei. Sie zeichnet sich durch eine ebenmässige Behandlung der ganzen Bildfläche aus, die ein dicht bedecktes, gleichmässig texturiertes Farbfeld hervorbringt. Kontraste und Plastizität werden gedämpft und das Bild auf eine vergleichsweise undifferenzierte Oberfläche irisierender Farben reduziert. Die rhythmisierte Pinselführung erzeugt ein wandschirmartiges Bild, das auf Anfang, Mitte und Ende zu verzichten scheint und deren Gegenstandsbezug – eine Wasserfläche mit Seerosen, in der sich Himmel und Bäume spiegeln – zuweilen kaum mehr auszumachen ist. Still wiederum fand in seinen abstrakten Gemälden zu einer Malerei, welche die Grenzen des Staffeleibildes sprengte und zu grossen, an der Vertikale orientierten und meist nur aus wenigen unmodulierten Farbzonen bestehenden Bildern führte. Die gesteigerten Formate, das den Rahmen scheinbar nicht berücksichtigende All-over der malerischen Bewegung und die vertikal aufragende, durch keinen Horizont geteilte Flächigkeit liessen Monets und Stills Bilder als unmittelbar verwandt, ja mehr noch: als direkt auseinander hervorgehend erscheinen. Die Ähnlichkeit wirkte augenöffnend zu beiden Seiten hin, führte zu einer Neubewertung von Monets bislang eher abfällig beurteiltem Spätwerk und eröffnete zugleich eine Verständnismöglichkeit für Stills zunächst als willkürlich und strukturlos kritisierte Kunst. Das Auftauchen Stills und seiner abstrakt-expressionistischen Kollegen der New York School beförderte massgeblich das Monet-Revival der fünfziger Jahre, während dieses wiederum die Wertschätzung des Abstrakten Expressionismus wachsen liess, bis er am Ende der fünfziger Jahre von New York aus seinen internationalen Triumphzug antrat. Bei näherem Zusehen zeigt sich allerdings, dass es sich bei der Ähnlichkeit zwischen Monets naturbezogenem Impressionismus und Stills abstraktem Expressionismus um eine Art „Pseudomorphose“ handelt: um die Übereinstimmung zwischen Werken, deren enge formale Verwandtschaft vergessen lassen kann, dass sie sich einer unterschiedlichen Entstehung verdanken und eine unterschiedliche Bedeutung haben. Nähe und Ferne stehen bei Monet und Still in einem spannungsreichen Verhältnis, und erst die doppelte Optik, die beides zugleich zu sehen versucht, entdeckt die eigentliche Pointe der formalen Verwandtschaft, die im erstaunlichen Phänomen besteht, dass auseinander liegende historische Zusammenhänge und Beweggründe gleichwohl zu ähnlichen Bildern führen können. Konfrontiert man die Bilder miteinander, tritt ihre Vergleichbarkeit daher ebenso heraus wie ihre irreduzible Verschiedenheit. Der Bezug zwischen Still und Monet beleuchtet schlaglichtartig die komplexe Wirkungsgeschichte der Nymphéas, die – wie jede Wirkungsgeschichte – Verstehen und Missverstehen ineinander fliessen lässt.
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