Claes Oldenburg The Store Kunst Ware

Die Kunst und ihr Außen als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 3.430 KB)

spacer

Die Kunst und ihr Außen – Am Beispiel von Claes Oldenburgs The Store

in: Zwischen „U“ und „E“. Grenzüberschreitungen in der Musik nach 1950, hrsg. von Friedrich Geiger und Frank Hentschel, Frankfurt am Main 2011, S. 173 – 194.

Kapitel V: Ein konkretes Beispiel: Claes Oldenburgs The Store

Im Juni 1961 verlagerte Claes Oldenburg sein Atelier in einen Laden auf der 107 East Second Street im südlichen Teil Manhattans. In dessen rückwärtigem Raum installierte er seine so genannte ‚Ray-Gun-Manufaktur‘, deren produktiven Ausstoß er ab Dezember desselben Jahres in den vorderen Verkaufsräumen feilbot. Wer den Laden betrat, stieß auf eine Fülle an bemalten Gipsplastiken, die jene Waren nachbildeten, die auch in den Schaufenstern der benachbarten Geschäfte der Lower East Side zum Verkauf auslag: Die billige Unterwäsche und leichten Kleider der Dorchard Street, die Nahrungsauslagen in den Fastfood-Restaurants und Lebensmittelläden der Second Avenue. Oldenburgs Store offerierte mithin das gesamte Spektrum des Alltagsbedarfs.
Die Kommodifizierung des Kunstwerks ersetzte Oldenburg durch den gegenläufigen Vorgang einer Transformation des Konsumguts: Der Akt der Nachahmung verwandelte standardisierte Massenprodukte in handgemachte Unikate, die individuelle Merkmale aufwiesen. Dadurch, dass sich Oldenburgs Faszination für die Konsumgüter nicht durch Konsumzwänge, sondern (für einen Künstler durchaus naheliegend) durch Produktionshandlungen kundgab, entzog er sich subversiv den Verführungskünsten von Werbung und Ware: „[F]or all these radiant commercial articles in my immediate surroundings I have developed a great affection, which has made me want to imitate them. […] And the effect is: I have made my own Store“.
Der Mimetismus des Store betraf jedoch nicht nur die Konsumgüter selbst. Ebenso auffällig war Oldenburgs performative Nachahmung der unterschiedlichen mit ihnen verbundenen Tätigkeitsfelder: Er war ebenso der Hersteller wie der Händler seiner Waren, der Direktor der ‚Ray-Gun-Manufaktur‘ wie zugleich dessen (einziger) Angestellter – eine vorkapitalistische, die Produktionsmittel selbst kontrollierende Wirtschaftsstruktur. Zudem erlaubte ihm das breite Sortiment des Store, mehrere Produzentenrollen zugleich anzunehmen – er war Konditor, Schneider, Brautausstatter, Fleischer und Schuster in Personalunion. Neben der handwerklichen Herstellung und dem Vertrieb seiner Produkte oblagen ihm auch das Marketing, die Finanzplanung sowie die Buchhaltung über die Geschäfte. Oldenburg ließ sogar Plakate und Visitenkarten drucken. Damit schwankte seine Figur zwischen Künstlersubjekt, Galerist und Kleinunternehmer.
Oldenburg hatte also den Galeriekontext räumlich aufgegeben, von der Kunstwelt Abstand genommen und sich in einem ‚wirklichen‘ Laden in einem verwahrlosten Downtown-Bezirk niedergelassen. Die Produkte, die er zum Verkauf anbot, verwiesen unmittelbar auf die Konsumkultur der sie umgebenden Warenwelt, wodurch die innerhalb der westlichen Gesellschaften verbreitete bürgerliche Vorstellung von der Kunst als einer außerökonomischen Wertsphäre nachhaltig brüskiert wurde. Indem Oldenburg Kunstwerk und Konsumgut, Atelier und Manufaktur, Galerie und Laden engführte, legte er allerdings nur dasjenige offen, was für den Kunstbetrieb ohnehin vorausgesetzt werden muss, jedoch durch den ideologischen Zuschnitt des White Cube gemeinhin verschleiert wurde: dass das Kunstwerk immer schon Teil der Warenzirkulation ist. „[T]hings are displayed in galleries, but that is not the place for them. A store would be better“, so Oldenburg. „Museum in bourgeois concept equals store in mine.“
Indem Oldenburg den Kunstcharakter seines Projekts durch die ökonomische Zurichtung strapazierte, wurde das bürgerliche Publikum auf das Paradox kapitalistischer Gesellschaftsformen hingewiesen, das ökonomische Prinzip universell anzuerkennen und zugleich – in der idealistischen Sphäre der Kunst – als außer Kraft gesetzt zu betrachten. Indem Oldenburg seine Galerie als einen banalen Einzelhandel tarnte, verweigerte er die ästhetische Sublimierung des Artefakts und widersetzte sich dem konventionellen Kunstbegriff. Denn dieser Kunstbegriff, der in der ‚Autonomie der Kunst‘ seine Ausformulierung fand, postulierte zwar erst die Freiheit der Kunst von allen praktischen, ethischen, politischen oder ökonomischen Verpflichtungen, schloss sie dadurch aber aus eben diesen gesellschaftlichen Bereichen zugleich aus. Die Autonomie resultierte in einer teils selbstverschuldeten, teils erzwungenen Beschränkung und Relativierung des eigenen Geltungsbereichs. Um den Kunststatus seines Projektes vor dem Hintergrund dieses konservativen Kunstbegriffs unsicher werden zulassen, um Erwartungshaltungen zu durchkreuzen und die Widerständigkeit seines Werkes zu gewährleisten, beschritt Oldenburg also den scheinbar affirmativen Weg, sich in die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu reintegrieren. Damit hob er zwar die bestehende Ordnung nicht auf, unterwanderte sie aber zumindest. Er agierte, wie er selbst sagte, „getarnt“: „The artist must practice disguises. When his intentions are best, he must appear the worst.“

Einleitung
Kapitel I: Die institutionelle Perspektive
Kapitel II: Die mediale Perspektive
Kapitel III: Die Popularität der Kunst, oder: Gibt es in der bildenden Kunst einen Bereich des ‚U‘?
Kapitel IV: Die Kunst und ihr Außen
Punkt Kapitel V: Ein konkretes Beispiel: Claes Oldenburgs ‚The Store‘
Pfeil Kapitel VI: Die ‚Beseelung‘ der Dinge
Kapitel VII: Die Störung der ästhetischen Grenze
spacer
Die Kunst und ihr Außen als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 3.430 KB)