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Die eigentliche Tätigkeit. Aktion und Erfahrung bei Bruce Nauman
in: Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen, hrsg. von Erika Fischer-Lichte, Robert Sollich, Sandra Umathum und Matthias Warstat, München 2006, S. 57-74.
Kapitel I: Aktivität und Passion
Die Selbstaktivierung zum Performer und die Aktivierung des Betrachters zum Teilhaber des Werks führen bei Bruce Naumans Arbeiten zu einer Entschleunigung bis zum Stillstand. Er gleicht dem Verharren auf einer Schwelle – auf der Schwelle zwischen Einschluss und Ausgrenzung, somatischer Empfindung und intellektueller Reflexion, spezifischer Erfahrung und generalisierbarem Sinn. Insbesondere bei den begehbaren Installationen arbeitet Nauman mit zwei unterschiedlichen Aktivierungen des Betrachters: zum einen mit der unmittelbaren Interaktion als Automatismus von Reiz und Reaktion, zum anderen mit der komplexen, Psychologie, Anthropologie, Physiologie, zuweilen auch Soziales und Politisches einschließenden reflexiven Aktivierung des Rezipienten. Weder die automatistische noch die reflexive Aktivierung sind kunstspezifisch. Das Kennzeichen von Naumans Arbeiten, das auf die spezifischen Möglichkeiten der Kunst verweisen dürfte, besteht darin, beide Aktivierungen gleichzeitig hervorzurufen und in Konflikt zueinander treten zu lassen. Die Erkenntnisse, die dadurch eröffnet werden, erscheinen grundlegend und zugleich in ihrem weiterführenden Sinn zweifelhaft. Exemplarisch für diesen epistemischen Zweifel ist eine Einsicht, die Nauman in einem jüngeren Interview vorträgt. Nehmen wir einmal an, so Nauman in diesem Interview, wir wollten den rechten Fuß heben und einen Schritt nach vorne setzen. Stünden wir auf dem rechten Fuß, gehe das nicht. Wir müssten, um ihn heben und versetzen zu können, das Gewicht erst einmal auf den linken Fuß verlagern. Wenn wir dann den rechten Fuß erneut bewegen wollten, beginne das Spiel von neuem. Nauman zergliedert die simple, gewöhnlich unwillkürlich ablaufende Bewegungsfolge des Gehens, um festzustellen, dass wir eigentlich hinken, wenn wir gehen. Worüber Nauman schweigt, ist die Frage, was aus dieser Einsicht folgt. Denn im Grunde müssen wir sie wieder vergessen, um tatsächlich gehen zu können.
Der Wandel von einer distanzierten, kontemplierenden Beziehung zwischen Werk und Betrachter zur aktiven Beteiligung des Betrachters am Werkprozess dynamisiert sich in den 60er Jahren in einer Weise, die den jeweiligen Rezeptionsprozess zuweilen zum eigentlichen Inhalt des Kunstwerks avancieren lässt. Die künstlerische Bedeutungsstiftung subjektiviert und performativiert sich, indem sie sich von ihren konkreten Umständen und Verläufen weder ablösen kann noch will. Innerhalb dieses Wandels kommt Naumans Œuvre besondere Bedeutung zu. Insbesondere zwingen seine Arbeiten dazu, Werkbetrachtung und Selbstbefragung fortwährend aufeinander zu beziehen. Die Interpretation der jeweiligen Werke kann gar nicht anders, als die Strukturbeobachtungen am Werk und die Selbstbeobachtung des Rezipienten wechselseitig auseinander hervorgehen zu lassen – wobei sich die Selbstbeobachtung des Betrachters bei Nauman an Werken vollzieht, die ihrerseits in der Selbstbeobachtung des Künstlers gründen. Die Arbeiten öffnen sich rückhaltlos für den Betrachter, den sie auffordern, das Werk zu ‚machen‘, das gerade bei den raumgreifenden Installationen ohne dessen Mitwirkung unförmig und unsinnig bliebe. Allerdings stellt sich bald eine gegenläufige Erfahrung ein. Der Betrachter ‚macht‘ das Werk nicht, sondern wird vielmehr von diesem ‚gemacht‘, indem er in einer zuweilen diktatorischen Weise in eine ästhetische oder sogar existenzielle Erfahrung gedrängt wird. Die spezifisch Naumansche Ausprägung des ‚Kunstrisikos‘, um das dieser Sammelband kreist, besteht folglich in zwei unauflösbaren Spannungen: einerseits zwischen intensiver somatischer Erfahrung und offen bleibendem Sinn, andererseits zwischen Aktivierung des Betrachters und dessen Passion.