Die Wahrheit ist … als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 4.624 KB)
Die Wahrheit ist … / The Truth is …
in: Hilmar Boehle. Skulpturen, Objekte und Performances von 1978 bis 2009, hrsg. von Ulrich Krempel, Kettler, Dortmund, 2015, S. 121-153.
Kapitel 1
Bereits die ersten in das Werkverzeichnis aufgenommenen Arbeiten Hilmar Boehles weisen eine Tendenz auf, die auf sein gesamtes Werk ausstrahlt. Die in den späten 1970er Jahren in New York entstandenen Arbeiten 21st Street Sculpture oder Dave’s Corner knüpfen an die minimalistische Formensprache an. Boehle platziert Betonwerksteine oder Stahlprofile in weiten, offenen Räumen, einmal im Außen-, einmal im Innenraum. Doch die minimalistische Praxis beispielsweise eines Carl Andre (auf den sich Boehle ausdrücklich bezieht) wird substanziell erweitert. Die skulpturalen Eingriffe machen auf den Raum nicht allein in einem abstrakten Sinne aufmerksam, etwa als Hülle, Volumen oder als Phänomenalität. Vielmehr werden die dem Raum hinzugefügten Elemente so situiert, dass sie wie eine Antwort auf das konkret Vorhandene erscheinen. Bei 21st Street Sculpture geschieht dies dadurch, dass sich die Ecke der Skulptur auf eine gegenüberliegende Hausecke bezieht und die minimalistische Struktur so den Aspekt gewinnt, als sei sie die erste Markierung eines zukünftigen Hauses, das der Künstler (sich) hier errichtet. Dave’s Corner, im selben Jahr 1978 entstanden, variiert diese Form der Bezugnahme auf einen konkreten stadttopografischen Raum. Im damaligen Atelier innerhalb des P.S.1 legt er aus Stahlprofilen eine Form aus, die konträre Energien freisetzt – eine zentripetale, indem die Stahlprofile als ihre Mitte ein Dreieck ausgrenzen, sowie eine zentrifugale, indem die Profile vektorengleich in den Raum schießen. Die trianguläre Form bezieht sich einerseits spannungsreich auf die sie umgebende rektanguläre Raumhülle, andererseits verweist sie auf jenes Viertel in Manhattan, in dem Boehle damals wohnte: das aus Canal Street, Avenue of the Americas und Church Street geformte Dreieck, das TriBeCa (Triangle below Canal Street) genannt wird. Der Titel der Arbeit, Dave’s Corner, zeigt darüber hinaus an, dass die Form nicht nur auf eine bestimmte Stadttopografie verweist. Denn er verweist auf eine an der Canal Street domizilierte Luncheonette, ein kleines, im offenen Straßenraum gelegenes Imbiss-Restaurant, das damals insbesondere in den Nachtstunden ein Szenetreffpunkt war. Die zentrifugal-zentripetale Dynamik der Bodenskulptur, die die Raumkräfte ebenso bündelt wie freigibt, wird aufgrund des Titels lesbar als Chiffre für die spezifische soziale Rolle, die Orte wie Dave’s Corner Luncheonette in einem bestimmten großstädtischen Mikrokosmos spielen.
In einigen etwas später, aber ebenfalls noch in New York entstandenen Arbeiten erweitert Boehle den minimalistischen Ansatz um ein performatives Element. In der Werkfolge der Streetlife Drawings von 1979 durchmisst er den Straßenraum mit einem Einkaufswagen, in welchem er eine Tonne platziert und deren Kreideinhalt er durch eine Öffnung auf den Boden rieseln lässt. In einer Mimikry von Straßenmarkierungsarbeiten trägt er geometrische Grundformen auf den Straßenbelag auf: ein Quadrat, eine Linie, einen Kreis und einen Punkt. Die Linien sind geometrisch makellos, als seien sie Umsetzungen von Kandinskys Punkt und Linie zu Fläche, transponiert von der Bildfläche in den öffentlichen Raum. Doch gerade die geometrische Rigidität macht sie zu Störfaktoren, da sie sich weder an die jeweiligen Verlaufsformen der Straßen noch an die Grenzen von Bürgersteigen und Fahrbahnen halten. Auch die Zweckbestimmung als Fortbewegungsbahnen missachten sie, mit der Folge, innerhalb kurzer Zeit von den Autoreifen und den Sohlen der Fußgänger zerrieben zu werden. Das performative Element, das den künstlerischen Akt sowohl in seinem Vollzug als auch in seinem Ergebnis radikal verzeitlicht, macht aus den Streetlife Drawings mehr als Akte eines verräumlichten Zeichnens. Vielmehr werden sie zu Reflexionen auf die Stellung des Künstlers und seines Tuns im sozialen Raum. Dieses Tun ist eingespannt zwischen der Möglichkeit, die Strukturen des Gegebenen künstlerisch herausfordern zu können, und der Gefahr, von der Normativität des Faktischen buchstäblich überrollt zu werden.
Kapitel I | |
Kapitel II | |
Kapitel III | |
Kapitel IV | |
Kapitel V | |
Die Wahrheit ist … als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 4.624 KB) |