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Manets Reise zu Velázquez und das Problem der kunstgeschichtlichen Genealogie
in: Umwege. Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen, hrsg. von Bernd Blaschke, Rainer Falk, Dirck Linck, Oliver Lubrich, Friederike Wißmann und Volker Woltersdorff, Bielefeld 2008, S. 119-158.
Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 1
Manets Reisemotive hängen, so die zu erläuternde These, mit einem Legitimitätsproblem zusammen, das sich in zwei unterschiedlichen Bereichen abzeichnete: einerseits in Manets Familie, andererseits in der eigenen künstlerischen Praxis. In beiden Bereichen zeigt es sich als unsichere genealogische Verankerung, als ungewisse Vater- und Sohnesschaft; und in beiden Bereichen war es die erste Hälfte der 1860er Jahre, in der sich die Krise und deren Bewältigung ereigneten.
Wenden wir uns zunächst der familiären Situation zu. Auf zahlreichen von Manets Gemälden begegnen wir einem Jungen – später einem jungen Mann -, dessen bürgerlicher Name Léon-Édouard Koëlla lautete und der gemäß Geburtsurkunde der Sohn von Suzanne Leenhoff und einem unbekannten Holländer namens Koëlla war. Suzanne Leenhoff war um die Jahreswende 1849/50 ins Hause Auguste Manets, des Vaters des Künstlers, gekommen, um den Söhnen Klavierunterricht zu erteilen. 1852 gebar sie den erwähnten Sohn, dessen leiblicher Vater bis heute nicht feststeht. In der Gesellschaft wurde er als Suzannes jüngerer Bruder ausgegeben, bei der späten Taufe 1855 wurde Manet sein Pate. Nach Auguste Manets Tod heirateten Suzanne und Édouard. Daraus wurde geschlossen, Léon sei deren gemeinsamer Sohn. Doch es gibt mehrere Indizien, die gegen Édouards Vaterschaft sprechen. Das wichtigste dürfte sein, daß er Léon nie als Sohn legitimierte. Von Nancy Locke wurde statt dessen die Vermutung ins Spiel gebracht, Manets Vater Auguste sei Léons leiblicher Vater gewesen. In diesem Falle wäre jener nicht Édouards Sohn, sondern Halbbruder gewesen. Auch wenn dies nicht zu beweisen sein dürfte, bleibt an den vorliegenden Dokumenten doch auffällig, daß gerade die engsten Familienfreunde den Rätselcharakter von Léons Abstammung betonten, ja Léon selbst davon sprach, er habe dieses „secret de famille“ nie aufdecken können. Dies erzeugt den Eindruck eines Rätsels, das nicht gelöst werden durfte. Während die Vaterschaft des ledigen Kunststudenten Édouard kein allzu großes moralisches und juristisches Problem gewesen wäre, hätte Augustes Vaterschaft unter allen Umständen geheim bleiben müssen, nicht zuletzt weil er als Richter über genau solche Familienangelegenheiten schwere Sanktionen zu gewärtigen gehabt hätte. Da sichere Informationen darüber fehlen, ob und ab wann Édouard und Suzanne ein Liebespaar waren, ergeben sich, sofern die Vermutung von Augustes Vaterschaft zutreffen sollte, mehrere in unterschiedlicher Weise problematische Konstellationen. Entweder war Suzanne die Geliebte des Vaters und des Sohnes, und Édouard fühlte sich verpflichtet, für den Sohn (auch) seiner Geliebten zu sorgen; oder Manet ‚erbte‘ als erstgeborener Sohn nach dem Tod des Vaters nicht nur beträchtliche Vermögensteile, sondern auch dessen Geliebte sowie den mit ihr gezeugten Sohn. In beiden Fällen hätte Manet das väterliche Unrecht gedeckt, auch über dessen Tod hinaus.
Dieses ödipale Drama, sollte es sich tatsächlich ereignet haben, hätte sich einer ohnehin schwierigen Vater-Sohn-Beziehung eingefügt. Auguste Manet, Magistrat der Restaurationszeit, exemplarischer ‚haut bourgeois‘ und autoritärer ‚père de famille‘, war vor allem anderen besorgt, das Ansehen des Familiennamens und des Berufsstandes, dem schon seine Vorfahren angehörten, zu wahren. Infolgedessen versuchte er mit allen Mitteln, dem ältesten Sohn seine Neigungen zum Künstlerischen auszureden. Er sollte die juristische Laufbahn einschlagen, und als dies unmöglich schien, in der Marine untergebracht werden. Da Manet jedoch die jeweiligen Examen nicht bestand oder gar nicht ablegte, blieb Auguste nichts anderes übrig, als in die Malerausbildung einzuwilligen. 1857, ein Jahr nachdem Manet seine Lehrzeit beendet und den Weg des selbständigen Malers angetreten hatte, erkrankte Auguste so schwer, daß er sein Amt niederlegen mußte, da er aufgrund von Lähmungserscheinungen nicht mehr sprechen und schreiben konnte. Das ohnehin schwierige Gespräch zwischen Vater und Sohn brach ab. Ein eindrückliches Dokument dieses Verstummens hinterließ Manet im Portrait de M. et Mme Manet. Gerade weil die Figuren in Manets Bildern meistens direkt aus dem Bild blicken, fällt hier auf, daß Auguste, obwohl er nahe und fast frontal an den vorderen Bildrand gerückt wurde, nicht zum Betrachter – bzw. zum porträtierenden Sohn – schaut, sondern mit einem Gesichtsausdruck vor sich hinstarrt, in dem sich Wut, Anstrengung und Trauer gleichermaßen abzeichnen. 1861, ein Jahr vor Augustes Tod, präsentierte sich Manet mit diesem Bild in dem ersten Salon, dessen Jury ihn zuließ. Daneben hing sein Chanteur espagnol, der vom Publikum als Beginn einer erfolgreichen Malerlaufbahn gepriesen wurde.
Ein Jahr nach dem Tod des Vaters wurde die causa Léon Leenhoff innerlich und äußerlich abgeschlossen: 1863 heiratete Manet Suzanne Leenhoff, sie bezogen eine gemeinsame Wohnung, und Manet sorgte für Léon wie für seinen eigenen Sohn. Später bestimmte er ihn testamentarisch als denjenigen, der nach seinem und Suzannes Tod die gesamte Hinterlassenschaft erben sollte.