Arnold Gehlen „Zeit-Bilder“ als Druckversion (PDF 412 KB)
Die innere Galeere der Freiheit. Zu einigen Motiven in Arnold Gehlens „Zeit-Bildern“
in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 159, 12./13.7.1997, S. 66.
Kapitel II: Die Kunst als Führungselement
In seinem Hauptwerk „Der Mensch“ (erstmals erschienen 1940) definiert Gehlen den Menschen als „Mängelwesen“, das, um sich im Dasein zu halten, rechtlicher, religiöser und sittlicher „Institutionen“ bedarf. In den „Institutionen“ als gesellschaftlichen Tatsachen verkörpern sich die massgeblichen „Führungsideen“ einer Kultur oder einer Gesellschaft. Sie geben dem Menschen die nötige Orientierung und „entlasten“ ihn vom Daseinsdruck. Gleichzeitig dienen sie dazu, seine „Antriebsenergie“ so zu lenken, dass sie nicht ziellos oder sogar gefährlich wird. – Die Kunst steht für Gehlen im Dienst dieser Führungsstruktur. Ihr kommt die doppelte Aufgabe zu, die herrschende Macht zu repräsentieren und zugleich die Auffassungen jedes Einzelnen zu bestimmen. So heisst es in „Zeit-Bilder“:
„Keine Macht, welche sich zur Herrschaft im entschiedenen Sinn berufen fühlt, kann darauf verzichten, das Bewusstsein des Menschen zu besetzen, und die Endgültigkeit ihres Anspruchs drückt sich darin aus, dass sie dieses Bewusstsein vollständig bestimmt: also bis in die Anschauungen hinein. Was daher, vom einzelnen Menschen her gesehen, als Aussenhalt des Inneren erscheint, stellt sich von den Institutionen aus als Repräsentation dar; denn sie verkörpern sich in sichtbaren und daseinsmächtigen Symbolen, unter denen die Künste stets einen hohen Rang einnahmen.“
Die Kunst hilft also tätig mit, das Innere des Menschen mit dem Anspruch der Macht in Übereinstimmung zu bringen. Wenn das gelingt und die „Institutionen“ sich im Innern des Einzelnen spiegeln, dann herrscht die „Fraglosigkeit des Normnatürlichen“. Der Mensch befindet sich „normativen Gleichgewicht“.
Indem Gehlen die Kunst als Stütze der gesellschaftlichen Stabilität versteht, weist er ihr einen eindeutigen Zweck zu. Das Ästhetische an der Kunst bezeichnet er als „folgenlos“. Relevant wird die Kunst erst, sobald sie nicht l’art pour l’art, sondern „l’art pour le roi“ oder „pour l’eglise“ ist. Ihren Zweck kann sie also nur erfüllen, wenn sie sich „dienend“ verhält. In ihrer höchsten Form lebt sie als „prachtvoller Parasit der Herrschaft“, der sich „in Gehorsam, im Hinhören“ übt. So ist die Kunst in doppelter Weise auf das Geltende verpflichtet: als dessen normierte Spiegelung und als dessen normierende Festschreibung zugleich. Sie entspricht damit den übrigen Elementen des „Führungssystems“, die ebenfalls gleichzeitig „auf Aneignung und Kontrolle der Wirklichkeit hin gezüchtet“ sind.
Es gehört allerdings zur Eigenart von Gehlens Kunstauffassung, dass diese nicht nur als Element der Führung auftritt, sondern selbst führungsbedürftig ist. Denn sie stellt, analog zum Menschen, ein „Mängelwesen“ dar. Ihr Mangel liegt in ihrer „fundamentalen Begriffslosigkeit“, sodass ihre Ausdrucksweise, die bildnerische Gestaltung in Form und Farbe, „ein irrationales blosses Datum“ bleibt. Um der Irrationalität zu entkommen und rational zu sein – und „Rationalität“ ist die Hauptforderung Gehlens an die Kunst -, muss sie sich an ausserbildlich vorgeprägte Gehalte „anlehnen“.
Aus der Perspektive des Logos-Mangels heraus entfaltet Gehlen die Geschichte der Kunst als Geschichte der jeweiligen „Lösung“ ihres grundlegenden „Problems“. In der Feudalgesellschaft gelingt es ihr, indem sie sich für grosse heroisch-historische Auftritte zur Verfügung stellt, in der Renaissance durch die Ausrichtung auf die mathematisch-geometrischen Wissenschaften, im bürgerlichen Zeitalter schliesslich durch die realistisch korrekte Mimesis der alltäglichen Dingwelt.
In der „nachbürgerlichen Industriegesellschaft“ der Moderne verflüchtigen sich die Möglichkeiten der „Anlehnung“. Die Photographie löst die Aufgabe der Realitätsdarstellung besser, die Wissenschaft wird unanschaulich und damit der künstlerischen Imagination unzugänglich, die Natur bildet nicht mehr die selbstverständliche Umgebung des Menschen, und schliesslich lässt die „unaufhaltsame Demokratisierung“ die repräsentative Funktion der Kunst „leerlaufen“. Dem freigesetzten Künstler ohne jeden „Aussenhalt“ bleibt nur der Weg ins Innere seiner Subjektivität. Kronzeuge für diese Wendung ist die Abstraktion, die den letzten Bezug zur Wirklichkeit, die Darstellung wiedererkennbarer Gegenstände, aus sich ausstösst und auf diese Weise den „roten Faden der Bildlogik“ verliert. Ohne Halt in der begrifflichen Rationalität wird das Bild zurückgeworfen auf die reine Form, d.h. auf das zweck- und folgenlose Ästhetische. Es bleibt nichts an ihr, „was in Moral, Erziehung, Dienst am Volke oder Weltanschauung umgesetzt werden könnte“.
Damit hat die moderne Kunst ihre Daseinsberechtigung verwirkt. Sich dem möglichen Einwand zuwendend, wie das dennoch anhaltende, ja sogar wachsende Interesse der Öffentlichkeit an der Kunst zu verstehen sei, erklärt Gehlen, dieses könne auch dem schon Abgestorbenen gelten, darin liege der Unterschied von Natur und Kultur: „Scheintot ist eine biologische, scheinlebendig eine kulturelle Kategorie.“
Indem Gehlen die Kunst auf eine Aussensteuerung festlegt, durch die sie erst einen Sinn und einen Zweck erreicht, verwehrt er ihr gleichzeitig jede Freiheit und Autonomie, zudem jede Expressivität oder Emotionalität. Bildnerische Ausdrucksform, Subjektivität und Irrationalität werden gleichgesetzt. So kann Gehlen eine Kunst als „sinnentleert“ und „abgestorben“ bezeichnen, die sich, wie angeblich die Moderne, der blossen Subjektivität verschreibe. Doch bereits die vormoderne Kunst Michelangelos oder Rubens‘ bleibt missverstanden, wenn deren eigentliche, weil „rationale“ Leistung in der Unterordnung unter das ausserbildlich Geltende gesehen wird, während die künstlerische Formulierung, die einen Rubens erst zu einem Rubens macht, als „irrationales blosses Datum“ abgetan wird.
Wie die Konzeption des Menschen als „Mängelwesen“ Probleme aufwirft, so auch die entsprechende Auffassung der Kunst. Wenn die Kunst tatsächlich an einem derart fundamentalen Mangel litte, wie ihn Gehlen in der Begriffslosigkeit und der daraus folgenden Irrationalität erblickt, dann wird unverständlich, warum sie nicht längst untergegangen ist. Ihr hartnäckiges Fortbestehen in immer neuer Gestalt und unter immer neuen Bedingungen gibt vielmehr Anlass, ein eigenes, von nichts anderem zu leistendes Vermögen zu bestimmen. Doch dieses besteht genau in dem, was Gehlen ihr nicht zubilligen will: in der Möglichkeit einer autonomen Stimme in Gestalt der bildnerischen Einbildungskraft, die als ursprüngliches Vermögen keiner „Anlehnung“ bedarf. Es kann sich nur entfalten, wenn die Kunst sich nicht auf die Mimesis des normativ Geltenden reduzieren lässt. Erst indem die Kunst über die Abhängigkeit von ihrem Entstehungszusammenhang reflektiert, gelingt ihr das Transzendieren der alltäglichen Bedingtheiten, das sie unvorhersehbar und ereignishaft werden lässt. In der immer neu formulierten Beziehung zur Wirklichkeit und im Schwebezustand zwischen Realitätsgebundenheit und Autonomie liegt das eigentliche Potential der Kunst.
Gehlen hingegen sieht die Autonomie – wörtlich die Eigengesetzlichkeit -, mit der die Kunst sich zur Wirklichkeit ins Verhältnis setzt, allein negativ als die „Abtrennung vom Bedingungslosen“. Auf diese Weise bleibt ihm die ästhetische Bedeutung der Kunst verschlossen – und auch die gesellschaftliche: Denn der Anspruch an den Betrachter, in einem Akt der Interpretation die Balance von Autonomie und Wirklichkeitsbezug, die das jeweilige Werk charakterisiert, nachzuvollziehen und zu deuten, erzeugt nicht nur die Lust der Betrachtung in ihrer Mischung aus Wirklichkeitserkenntnis und Verführung. Dieser Anspruch erschliesst dem Betrachter zugleich die aufklärerische und emanzipatorische Dimension der Kunst. Das Verstehen des Kunstwerks bedeutet nämlich, auch das eigene Verhältnis zur Realität und den eigenen Realitätsbegriff ins Spiel zu bringen und revidierbar zu halten. Davon aber kann Gehlen, der von der Kunst wie vom Menschen die Unterwerfung unter die „Fraglosigkeit des Normnatürlichen“ verlangt, nichts wissen wollen.
Es ist weder plausibel noch erkenntnisfördernd, die Analyse und die Geschichte der Kunst von einem angeblichen Mangel her anzugehen. Doch das Mangelargument erfüllt eine strategische Funktion. Aus dem behaupteten Mangel folgt auf „natürliche“ Weise, dass die Kunst sich nicht aus sich selbst begründen kann und erst in der Ausrichtung auf das ausserhalb ihrer Geltende den nötigen „Aussenhalt“ findet, der ihr prekäres Dasein stabilisiert. Erst das Mangelargument bereitet den Boden für die sonst unbegreiflich bleibende Forderung nach Dienst und Gehorsam.
Auf dieser Basis wird nun mit dem modernen Künstler, der seine Rolle im „Führungssystem“ nicht mehr erfüllt, abgerechnet. Hier offenbart sich die eigentliche Intention des Buches, zudem zeigt sich das reaktionäre und autoritäre Denken seines Autors in aller Deutlichkeit. Gehlen beginnt mit der Vermutung, die Freiheit, die sich der moderne Künstler errungen habe, sei gar nicht wirklich gegeben, sondern er werde nur in einer neuen Weise „eingeschnürt“. Da der Künstler keine Aussenbedingungen der Malerei mehr anerkennt – z.B. Naturähnlichkeit, Tradition oder Ikonographie -, muss ihm notwendig das Bild selbst zur Inspirationsquelle werden. Es etabliert sich eine zirkuläre Kommunikation zwischen dem Künstler und seinem Produkt.
„Die ganze Produktion strebt tangential ins nicht Nachvollziehbare weg, das Sicheinwühlen in eine abgeschnürt-immanente Entwicklung ist nicht mehr anzuhalten, es gibt für sie keine inneren Kontrollinstanzen mehr, geschweige denn äussere. […] Das weder von aussen, von den Regeln der Gesellschaft und der Kunst, noch von innen her mehr kontrollierbare Innere findet seine eigenen Zwangsabfolgen, es verschlingt seine Geburten selbst und erzeugt sie bis ins Unendliche neu. […] Das ist es, was auf den hohen Ebenen von der gerühmten Freiheit des Künstlers übrig bleibt: die innere Galeere.“
Was Gehlen hier beschreibt, ist das Abgleiten des Künstlers in den einsamen Wahn, oder, wie es an anderer Stelle deutlicher heisst, in die „Psychopathie“. Zeugen eines solchen Prozesses sind Künstler wie Cézanne, Kandinsky oder Picasso. Mondrian kommt als „Verschrobener“ vergleichsweise gut weg, besondere Ablehnung trifft die expressionistischen „Normvernichter“ und „Selbstverbrenner“. Solche Künstler verletzen nicht nur jedes moralische Gefühl, sondern brechen selbst die „biologisch vorgegebenen Gestaltungsgesetze des Auges“.
Wenn der moderne Künstler so massiv gegen alles vorgeht, was „natürlich“ ist, verkehrt sich die systemstablisierende Funktion der Kunst in ihr Gegenteil. Der moderne Künstler provoziert nicht nur seine eigene „Pathologisierung“, sondern legt gleichzeitig „Sprengladungen an die kulturellen Grundmauern und Stützpfeiler.“ In einer solchen Situation aber entsteht Handlungsbedarf.
„Wenn sich so etwas durchsetzt, gibt es Ausstrahlungen: Das Verrückte wird verständlich und das Abnorme normalisiert, ganz allgemein und weit verbreitet gelangt das, was früher als widernatürlich, verschroben, hemmungslos oder sonstwie als tangential beurteilt worden wäre, zur Eingewöhnung, und so wird es „Natur“. […] Wenn in breiten Bereichen das Normale und das Abnorme durcheinanderrinnen und innerhalb des letzteren wieder die echte und die unechte Abnormität ununterscheidbar werden; wenn der Standpunkt fester Abgrenzungen als „konventionell“ schon fortgleitet, weil die „neue Natürlichkeit“ die Psychopathen, Träumer und Infantilen einschliesst, dann wird die Frage der Anwesenheit der Psychopathie in der Kunst gar nicht mehr behandelbar […] Und gerade innerhalb dieser Konstellation erreicht heute die Kunst eine Originalität und Normentbundenheit, eine Bewegungsfreiheit und Penetranz wie kaum je zuvor.“
Die Gefährlichkeit dieser Argumentation ist bekannt, sie hat bereits einmal ihre Durchschlagskraft bewiesen. Als die Nationalsozialisten zur Säuberung der Kunst von ihren „entarteten“ Elementen ansetzten, war der Vorwurf an die Künstler in den wenigsten Fällen politisch oder rassistisch begründet, sondern ging dahin, die gesamte Moderne als irr, verkindet und amoralisch zu diffamieren, und die Liquidierung geschah mit der Begründung, das Volk sei, um seiner Gesundheit willen, vor den Auswüchsen dieses kranken Geistes zu schützen.
Kapitel I: Einleitung | |
Kapitel II: Die Kunst als Führungselement | |
Kapitel III: Stetigkeit des Denkens | |
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