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Andy Warhol. Thirty Are Better Than One
Frankfurt/M. 1995 (Reihe Kunst-Monographien d. Insel-Verlags)
Kapitel III: Die Einordnung
Auf den einzigartigen Status der Mona Lisa antwortet Warhol mit ihrer Einordnung unter die Stars. Die Mona-Lisa-Paraphrasen sind Teil seiner Galerie der Starportraits. Diese Reaktion, einsichtig und widersinnig zugleich, verdient eine genauere Betrachtung. Der Rahmen dafür muß ein zweifacher sein, zum einen das Phänomen des Stars allgemein, so wie es sich in der Filmindustrie Hollywoods um 1915 herausbildet und um 1960 einen (vielleicht letzten) Höhepunkt erlebt, und zum anderen Warhols bildnerischer Umgang damit.
Mit der Zuwendung zu diesem größeren Feld ist zugleich ein Hauptstrang von Warhols Werk berührt, in dem Stars eine herausragende Rolle spielen. Die Porträts z. B. von Marilyn Monroe oder Liz Taylor (Abb. 11 u. 12) gehören nicht nur zu den bedeutendsten und bekanntesten Arbeiten des Künstlers, sie haben sogar, besonders im Falle Marilyn Monroes, das Bild des jeweiligen Stars wesentlich mitgeprägt. Wichtig dabei ist, daß der Erfolg der Starportraits seinen Grund weder ausschließlich in der Berühmtheit der Dargestellten noch in der Berühmtheit von Warhol selbst hat. Er beruht vielmehr auf ihrer Eigenschaft, ein grundlegendes Merkmal des vielschichtigen (psychologischen, soziologischen, ökonomischen) Phänomens Star, herauszustellen und sichtbar werden zu lassen – die Beziehung des Stars zu seinem Bild.
Der Star
Der Star ist eine Bild-Realität, und das in einem zunächst ganz wörtlichen Sinne. Die Vorstellung, die man von ihm besitzt, wird durch das bestimmt, was die Photographien und die Filmbilder als seine unverwechselbaren Züge, als seinen individuellen Habitusvermitteln. So wahrheitsgetreu jedoch diese Bilder sein mögen (und als technische Bilder stehen sie im Ruf, wahrheitsgetreu zu sein), der Star ist doch offensichtlich mehr als diese öffentliche Schauseite seiner Bilder. Je größer die Ausstrahlung der Bilder, desto größer ist die Neugier auf den Menschen hinter dem Bild. Man möchte wissen, wer der Star in Wahrheit, als wirklicher, privater Mensch ist. Sowohl historisch wie strukturell ist der Star gerade dadurch definiert und vom bloßen Schauspieler unterschieden, daß er als Persönlichkeit interessiert, ja daß die Person des Stars zum eigentlichen Brennpunkt der Aufmerksamkeit wird. So hat sich als fester Bestandteil des sogenannten Star-Systems eine Publikationsindustrie etabliert, die den Wunsch, in das private Dasein der Stars einzudringen, zu befriedigen verspricht.
Das Eigentümliche ist nun aber, daß die Neugier auf die wahre Persönlichkeit des Stars nie befriedigt wird – weil sie weder befriedigt werden soll noch befriedigt werden kann. Das Wissen über das Individuum hinter dem Bild speist sich, indem es aus Magazinen, Biographien, Interviews, Bildreportagen usw. stammt, wiederum nur aus Sekundärem, aus »Bildern«. Obschon diese Publikationen und Sendungen ihre Auflagenstärke und Einschaltquoten aus der Behauptung ziehen, der Oberfläche des Stars die Tiefe seiner wahren Persönlichkeit hinzuzufügen, entpuppt sich diese Tiefe als bloße Verknüpfung weiterer Oberflächen sprachlicher und bildlicher Art. Die »Wirklichkeit« hinter dem photographischen Bild ist, mit einem Begriff der Literaturwissenschaft gesprochen, ein intertextuelles Konstrukt.
So ist der »wirkliche Mensch« erneut ein Bild: das spezifische Image, das meist von der Filmgesellschaft, die den Star lanciert, gezielt aufgebaut wird. Das lmage soll weder zu eigentümlich noch zu allgemein, weder zu abseitig noch zu banal sein, damit der Star sowohl als Projektionsfläche für unsere Wünsche zu dienen vermag als auch die Identifikation mit ihm möglich bleibt. Die Enthüllungen über den Star als Menschen sind deswegen stets sowohl sensationell wie auch Bestätigungen der Klischees. Im Spiel von Oberfläche und »Tiefe«, von photographischem Bild und kalkuliertem Persönlichkeitsbild, bleibt der Star eine undurchdringliche Erscheinung, geheimnisvoll und auratisch wie sein klingender Name.
Historisch ist die Bild-Wirklichkeit des Stars eine Erscheinung der technischen Medien von Photographie und Film. Erst deren Entwicklung erlaubt eine so universale Verbreitung seines Antlitzes, daß es jedem vertraut werden kann. Und erst indem die Photographie die Wahrhaftigkeit des Bildes mit der Möglichkeit verbindet, einen Menschen von Angesicht zu Angesicht betrachten zu können, ohne ihm je Auge in Auge gegenübergestanden zu haben, kann die voyeuristische Spannung entstehen, die zwischen dem Star und seinem Bewunderer besteht. Sie ist die Folge davon, daß die absolute Sichtbarkeit des Stars stets an die Verborgenheit seiner Persönlichkeit gekoppelt bleibt.
Doch nicht nur historisch gesehen ist der Star das Erzeugnis der visuellen Massenkommunikation; er ist es auch im jeweiligen Einzelfall. Denn die Größe eines Stars liegt nicht primär in seiner Schauspielkunst, sondern in der Eignung als Rohstoff für ein Image. Wichtiger als der Vorweis dramatischen Könnens ist Hollywood das Ergebnis des sogenannten screen test, in dem ein Bewerber auf seine filmische Photogenität geprüft wird. Die Konsequenz ist die unterschiedliche Beziehung des Schauspielers zu seiner Rolle in Theater und Film. Im Theater ist die literarische Figur (z.B. Shakespeares »King Lear«) die Konstante, der Schauspieler hingegen die Variable, die danach beurteilt wird, wie glaubwürdig er die Rolle des King Lear zu verkörpern vermag und ob er ihr neue Aspekte zu entlocken weiß. Der Star-Film hingegen kehrt das Verhältnis um. Hier bildet der Star die Konstante, während die Rolle, ihm auf den Leib geschrieben, die Funktion der Variablen übernimmt, die danach bewertet wird, wie gut oder schlecht der Star in ihr »herauskommt«. Sein spezifisches lmage soll durch die neue Rolle zwar bereichert, aber keinesfalls durchbrochen werden.
So nimmt die Berühmtheit des Stars tautologische Züge an. Jedes neue Bild, jede neue Schlagzeile, ja sogar das erneute Zeigen der bekannten Bilder mehrt die Berühmtheit des Stars, ohne damit jemals etwas Neues mitzuteilen. Der Ruhm des Stars besteht schließlich in der schieren Berühmtheit selbst. Er ist, in einer Wendung Daniel Boorstins, nicht berühmt, weil er großartig ist, sondern großartig, weil er berühmt ist.
Das geschmeidige Gewebe der Images läßt sich nicht zerreißen. Selbst wenn der Star als Privatperson auftritt, ist sein Ich nur eine Funktion der Institution, die er verkörpert. Das Weinen bei der Oscar-Verleihung ist nicht echter und persönlicher als das Weinen als »X« im Film. Die Unterscheidung zwischen dem Star Marilyn Monroe und dem lndividuum Marilyn Monroe ist fiktiv, eine Fiktion allerdings, die von den Produzenten Hollywoods wie von den Fans aufrechterhalten und gepflegt wird. So steht in der Regel der Bewunderer eines Stars gleichzeitig den ausbeuterischen Machenschaften der Produzenten und der verleumderischen Presse ablehnend gegenüber. Er sieht den Star als deren Opfer, unter Ausblendung der Tatsache, daß auch das Opfer (das lndividuum hinter dem Star) ein Konstrukt des Star-Systems ist. Doch gäbe er sich darüber Rechenschaft, der Star vermöchte seine Aufmerksamkeit nicht länger zu erregen. Er wäre als Identifikations- und Projektionsobjekt so geeignet wie eine Märchenfigur oder ein antiker Gott. Nur wenn dem phantasmagorischen Gebilde Marilyn eine Wirklichkeit zugesprochen wird, nur wenn unser Assoziationsfeld gleichsam naturalisiert wird, kann der Star seine mythische Doppelrolle von gottähnlichem, archetypischem Wesen einerseits und irdischem, alltäglichen Menschen andererseits spielen.
Die Tragik Norma Bakers alias Marilyn Monroe, die am Mechanismus Hollywoods zerbrach, besteht in dieser Fiktion. Was die Öffentlichkeit als die »wahre Marilyn Monroe« begriff, hatte nicht mehr mit ihrer Identität (Norma Baker) zu tun als ihr öffentliches lmage als Star. Zwischen der Differenz, die den Star (Marilyn Monroe) von seiner Identität (Norma Baker) trennt, und der Indifferenz, die zwischen dem lmage und der »wahren Marilyn Monroe« besteht, herrscht ein unaufhebbarer Widerspruch – ein Widerspruch, der für Norma Baker tödlich war. »Ihr Scheitern, sich ihrem Bild in der Öffentlichkeit anzupassen, endete schließlich in Verzweiflung und Selbstmord«, vermerkt die Encyclopaedia Britannica lapidar. Das Bild hat über den Menschen triumphiert.
Das Beispiel der Marilyns
In seinen Porträts der Stars reagiert Warhol auf deren Bild-Realität in verschiedener Hinsicht. Bleiben wir beim Beispiel Marilyn Monroes (Abb. 11). Zunächst ist von Bedeutung, daß Warhol nicht das Porträt der lebenden, sondern der toten Marilyn Monroe schuf:
»The Monroe picture was part of a death series I was doing of people who had died by different ways. There was no profound reason for doing a death series, no ›victims of their time‹; there was no reason of doing it all, just a surface reason.« [»Das Monroe-Bild war Teil einer Todesserie, die ich von Menschen machte, die auf verschiedene Weise zu Tode gekommen waren. Es gab keinen tiefen Grund, eine Todesserie zu machen, es sollten keine ›Opfer ihrer Zeit‹ sein; es gab keinen Grund, das alles zu machen, nur einen Oberflächen- Grund.«]
In seiner Erklärung für die Marilyn-Serie, die ab 1962 in unmittelbarer Reaktion auf den Selbstmord der Dargestellten entsteht, trifft Warhol also dieselbe Unterscheidung, die im vorhergehenden Kapitel wesentlich war: der Grund dafür sei kein »tiefer« gewesen, sondern ein »Oberflächen-Grund«, »a sur-face reason«. Was diese Aussage für die Marilyns bedeutet, konkretisiert sich im bildnerischen Verfahren.
Da ist an erster Stelle die Tatsache, daß die Marilyns auf einer bereits existierenden, bekannten Photographie basieren. Diese Eigenart teilen die Marilyns mit den anderen Starportraits, ja mit praktisch allen Bildern Warhols: sie ist gewissermaßen Warhols Markenzeichen. Meistens wird diese Tatsache allein unter dem produktionsästhetischen Aspekt wahrgenommen, was zum Urteil führt, die Bilder seien als bloße Wiederholung von längst Bekanntem der Inbegriff einer unpersönlichen und indifferenten, ja nihilistischen Kunst. Dabei bleibt außer Betracht, ob und inwiefern der Entschluß, den eigenen Bildern bereits existierende Bilder zugrundezulegen, eine thematische Angemessenheit haben könnte. Diese Angemessenheit liegt nun bei den Starportraits gerade im Durchbrechen der herkömmlichen Vorgehensweise der Bildnismalerei, die auf der persönlichen und unmittelbaren Erfahrung des Malers von seinem Modell beruht. Denn es entspräche der Seinsweise eines Stars kaum, dessen Porträt anhand der unmittelbaren Anschauung der Person zu fertigen. Wenn einen Star zu porträtieren in Wahrheit bedeutet, eine surface (Oberfläche), ein Image zu porträtieren, dann handelt Warhol nur konsequent, wenn er das Bildnis dessen fertigt, als das der Star für die Öffentlichkeit existiert: das Bildnis seines photographischen Bildes.
Für die Marilyn-Serie greift Warhol auf eine Werbestandaufnahme für den Film »Niagara« aus dem Jahr 1953 zurück (Abb. 13). Es ist aufschlußreich, diese Photographie mit anderen bekannten Bildern des Stars zu vergleichen. Es fällt dann auf, wie maskenhaft ihr Gesicht hier erscheint, wie die Lippen sich in einer Weise verziehen, in der das Laszive keiner Spontaneität entspringt, sondern das Produkt einer sorgfältig einstudierten Pose ist. »Marilyn’s lips weren’t kissable, but they were very photographable.« [»Die Lippen Marilyns waren nicht zu küssen, doch sehr gut zu photographieren.«], so lautet Warhols Kommentar zu diesen Lippen, die er eigens und in 168-facher Vermehrung zu einer riesigen Doppeltafel verarbeitet hat (Abb. 14).
Den Konstruktcharakter von Marilyns Antlitz verstärkt Warhol in der Umarbeitung zum Tafelbild. Den Bildausschnitt der Photographie verengt Warhol radikal. Der Körper wird an der Kehle abgetrennt, übrig bleibt allein der starr ins Bild einquadrierte Kopf. Durch die Steigerung des Hell-Dunkel-Kontrastes wird Marilyns Gesicht zudem auf ein flaches Klischee reduziert, durch das der Blick hindurchzufallen scheint. Gleichzeitig jedoch erhöht diese Klischierung, unterstützt durch die schablonierten, grellen Farben, die Prägnanz der Gesichtszüge, während das Fokussieren des Kopfes das makellose Antlitz im wahrsten Sinne groß herauskommen läßt. Marilyns Gesicht ist flach und zugleich bodenlos, es ist erstarrt und entleert von allem, was an ihr Mensch ist, zugleich aber von gesteigerter Präsenz in dem, was sie zum Mythos macht, zum so hellen Stern, daß »neben ihm die Sonne verblaßt« (Arthur Miller).
Warhols Bildnis zeigt das Entstehen eines Mythos. Es zeigt, wie der primäre Sinn der Porträtphotographie, nämlich das naturgetreue Abbild eines Menschen zu sein, durch einen sekundären Sinn überlagert und verformt wird, der in diesem Menschen etwas anderes, neues sieht: die perfekte Kreatur, die sexuelle Wunschfigur, die Verkörperung des Amerikanischen Traums usw. Und es zeigt – und hier beginnt der Mythos -, wie dieser sekundäre Sinn, so sehr er eine Projektion sein mag, durch den Realismus, den die Photographie als »wahres Abbild« verbürgt, dennoch in der »Wirklichkeit« eines tatsächlich existierenden Menschen verankert wird. Die Marilyns sind fiktiv und realistisch zugleich, sie zeigen ein Wesen, das über den Menschen steht und dennoch einer von ihnen ist.
Erinnert man sich an die Tatsache, daß die Marilyn-Bildnisse auf den Selbstmord der Porträtierten reagieren und ein Teil einer Todesserie sind, dann stellt sich die Frage, warum sie keinen toten Menschen zeigen, sondern im Gegenteil Marilyn Monroe auf der Höhe ihres Glanzes. Die Frage verweist auf eine andere: was der Tod einer Figur bedeutet, die im Grunde nie gelebt hat, die deswegen aber auch solange nicht sterben wird, wie ihr Bild zirkuliert und unsere Phantasie anregt. Es ist letztlich die Frage, ob der Tod Marilyn Monroes nicht bereits in den Bildern wie der Werbeaufnahme für »Niagara« stattgefunden hat, während der tatsächliche Tod, der Freitod, gleichsam nur ein Nachspiel dazu war. Warhols Marilyn-Bilder, die den Tod und das Leben ineinanderblenden, in denen die Erstarrung zum Bild als höchste Form des Glamour erscheint, geben eine mögliche Antwort darauf.
Mona Lisa als Star
Selbstverständlich sind Mona Lisa und Marilyn Monroe nicht in derselben Weise Stars. Doch auch bei der Mona Lisa zeigt sich diese Überlagerung und Verformung des Sinns, auch sie wurde zu einer Projektionsfläche für Konnotationen ganz unterschiedlicher Art, die aber dennoch behaupten, in den realen Gegebenheiten des Bildes begründet zu sein. Ihr Glanz ist der Glamour der Stars, und es gilt auch für sie, daß sie nicht berühmt ist, weil sie großartig ist (so ist es einmal gewesen), sondern großartig, weil sie berühmt ist.
Die Marilyns und die Mona Lisas entsprechen sich aber vor allem darin, Bilder über Bilder, Porträts von Porträts zu sein. Der jeweilige Ausgangspunkt und das jeweilige Ergebnis der beiden Bildgruppen entsprechen sich jedoch nicht, sondern sind kreuzweise miteinander verbunden: sie bilden einen Chiasmus. Wenn die Bildkultur der Massenmedien und der Reproduktionsindustrie die Grenzen von Bild und Wirklichkeit unscharf werden läßt, dann führen die Marilyns die Variante vor, wie sich ein Mensch in seinem Image aufzulösen vermag. Die Mona Lisas hingegen zeigen, daß auch das Umgekehrte möglich ist, daß ein Gemälde das Dasein einer Quasi-Lebendigen annehmen kann, wie es das Empfangszeremoniell in den USA oder die Werbegraphik sichtbar werden lassen. Fertigt also Warhol das Porträt Marilyn Monroes, indem er ein photographisches Bild porträtiert, dann reflektiert er die Tatsache, daß bei ihr die Ebene des Menschen gar nie in den Blick kommt. Behandelt er hingegen die Mona Lisa, als wäre sie ein lebender Star, so reagiert er darauf, daß bei ihr die Ebene des Gemäldes gleichsam ausgefallen ist.