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Andy Warhol. Thirty Are Better Than One
Frankfurt/M. 1995 (Reihe Kunst-Monographien d. Insel-Verlags)
Kapitel II: Die Vorläufer
Warhols Paraphrase Thirty Are Better Than One ist mit ihren Maßen von 280 cm auf 210 cm ein sehr großes Bild. Die dreißig Siebdrucke der Mona Lisa haben jeweils beinahe das Format des Originals. Mißt die Tafel Leonardos 77 cm auf 53 cm, so erreichen Warhols einzelne Drucke die Abmessungen von 56 cm auf 35 cm. Die Reproduktionen geben daher von beiden Werken einen unzutreffenden Eindruck. Wird die Größe des Leonardo meist überschätzt, so ist es beim Bild Warhols das Gegenteil. Die manchmal zu lesende Auffassung, Thirty Are Better Than One gleiche einem Briefmarkenbogen, ist irreführend. Der Betrachter sieht sich, was das Format betrifft, tatsächlich dreißig Mona Lisas gegenüber.
Warhol hat in die Gestalt des Originals nicht eingegriffen. Der einzige Unterschied zu Leonardos Werk besteht in dem Umstand, daß Warhols Mona Lisas Reproduktionen sind. Diesen Unterschied, die Differenz von Original und Reproduktion, hat Warhol jedoch augenfällig forciert. Das geschieht bereits durch das Weglassen der Farbe. Zudem streben die Siebdrucke nicht etwa Werktreue an, sondern erscheinen im Gegenteil, mißt man sie an den Möglichkeiten der Wiedergabetechnik und den Qualitätsmaßstäben der Reproduktionsindustrie, als äußerst dürftig. Alle Feinheiten des Originals, etwa der Gesichtsmodellierung oder des Landschaftshintergrundes, verschwinden in einem krassen Hell-Dunkel-Kontrast, der kaum Zwischentöne kennt. Das fällt bei der Mona Lisa besonders ins Gewicht, da Leonardo die subtile psychologische Durchdringung seiner Darstellung vor allem durch eine äußerst fein abgestufte Licht- und Schattenmodellierung erreicht. Zur Mangelhaftigkeit der Reproduktionen kommt schließlich ihre ungleichmäßige Qualität hinzu. Teils sind sie zu dunkel, teils hingegen zu schwach und verwischt gedruckt. Von Leonardos malerischem Können bleibt in Warhols Serigraphien kaum etwas bestehen.
Warhols zweite gestalterische Maßnahme besteht darin, das Sieb gleich dreißigfach auf eine einzige Leinwand abzudrucken. Nahtlos aneinandergrenzend sind fünf Reihen von jeweils sechs Mona Lisas zu einem gitterförmigen Muster zusammengefügt. Thirty Are Better Than One führt auf diese Weise gleich beide Folgen der technischen Reproduktion vor Augen: sowohl die qualitative Verminderung des Originals im einzelnen Druck wie auch die quantitative Vermehrung des Originals aufgrund der Möglichkeit der unbegrenzten Wiederholung. Andere Gestaltungselemente finden sich nicht. Warhol beschränkt sich darauf, die Mona Lisa seriell zu reproduzieren, doch er tut es in einer Weise, die die Konsequenzen für das Original drastisch hervortreten läßt. Es ist vor allem der Entschluß, dreißig Reproduktionen simultan vor Augen zu stellen, der die serielle Reproduktion nicht bloß als ein Mittel zur Bildherstellung erscheinen läßt, sondern als das eigentliche Thema des Bildes. Diese Feststellung läßt sich präzisieren, wenn man Thirty Are Better Than One den Paraphrasen anderer Künstler sowie der Verwendung der Mona Lisa in der Werbung gegenüberstellt. Das Nachzeichnen der Rezeptionsgeschichte der Mona Lisa erlaubt aber nicht nur, die Eigenart von Warhols Paraphrase zu erkennen. Es ermöglicht auch, die Ereignisse, die sich 1963 in den USA abspielen, als Kulminationspunkt einer Entwicklung zu sehen, die sich seit längerem angebahnt hatte.
Die Rezeption des Gemäldes
1503 nimmt Leonardo die Arbeit an der Mona Lisa auf. Praktisch gleichzeitig beginnt die lange Geschichte ihrer Rezeption. Deren erste Phase ist geprägt durch die Auseinandersetzung mit den kompositorischen und malerischen Neuerungen, welche die Mona Lisa in die Bildnismalerei einführt. Es entstehen etliche Kopien, und verschiedene Künstler übernehmen Gestaltungselemente des Bildes in ihre eigenen Porträts. Raffael, der wahrscheinlich Einblick in Leonardos Arbeit an der Mona Lisa hatte, ist darin der erste und eifrigste. Eine wohl 1504 entstandene Zeichnung (Abb. 3) übernimmt nicht nur die Haltung der Dargestellten, sondern auch die Brüstung, die sie vom Landschaftshintergrund trennt. Selbst die beiden flankierenden Säulen dürften der Mona Lisa entnommen sein, bei der sie erst später (Leonardo vollendet das Gemälde Ca. 1506) auf die kaum noch sichtbaren Fragmente von Schaft und Basis reduziert werden. Auch die meisten der späteren Bildnisse Raffaels folgen dem innovativen Figuraufbau der Mona Lisa, der eine dreieckige, harmonisch im Bildfeld ruhende Körperkontur ergibt (Abb. 4).
Die künstlerische Nachwirkung der Mona Lisa läßt sich bis weit ins 19. Jahrhundert verfolgen, bis zu dem Zeitpunkt also, an dem das Porträt als malerische Aufgabe seine Bedeutung einzubüßen beginnt. Im Bereich der Kopien zeigt dies eine vorzügliche, ca. 1834-1836 entstandene Tafel des Salonmalers Theodore Chassériau, im Bereich der Adaptationen Camille Corots 1869 gemalte Frau mit der Perle (Abb. 5). Corots spätes Porträt eines Mädchens seiner Nachbarschaft ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem klassischen Vorbild. Es übernimmt nicht nur Darstellungsformen von Leonardos Bildnis, sondern reflektiert zugleich die zeichnerische Variante Raffaels, die Corot vertraut war, da sie sich wie die Mona Lisa im Louvre befand und damals oft gezeigt wurde. Die Handhaltung, vor allem aber die zarte Modulation von Licht und Schatten bezeugen die eingehende Beschäftigung mit Leonardos Werk. Aus der Zeichnung Raffaels hingegen ist die beinahe melancholische Zurückhaltung übernommen, die an die Stelle von Mona Lisas Lächeln tritt. Genau dasjenige Merkmal fällt also weg, das den heutigen Blick auf den Leonardo so entscheidend prägt. Corot gelingt damit eine Paraphrase, die gerade durch ihre vom Vorbild unabhängige Ausdrucksqualität dem Bildnistyp der Mona Lisa zu einer letzten künstlerischen Renaissance verhilft.
An den rezeptionsgeschichtlichen Eckfiguren Raffaels und Corots wird ablesbar, wie Leonardos Porträt mehr als 350 Jahre einen künstlerischen Maßstab zu bilden vermag, an dem sich die Porträtmalerei orientiert. Giorgio Vasaris Lob aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, die Mona Lisa sei ein Musterbeispiel für malerische Perfektion sowie für die Wahrhaftigkeit der Kunst, ist gleichsam das Leitmotiv dieser langdauernden Wertschätzung.
Gut siebzig Jahre nach Chassériaus Kopie und knapp fünfzig Jahre nach Corots Adaptation entstehen zwei Werke, die einen grundlegenden Wandel im Umgang mit Leonardos Bild bezeugen: Kasimir Malewitschs Komposition mit Mona Lisa von 1914 und Marcel Duchamps L.H.O.O.Q. von 1919 (Abb. 6 u. 7). Es ist vor allem die Entwicklung der Photographie, die in diesen siebzig Jahren nicht nur das Kopieren des Gemäldes obsolet werden läßt, sondern den Niedergang der Gattung des Porträts überhaupt beschleunigt. Doch obgleich die Mona Lisa aufgrund dieses Niedergangs ihren Vorbildcharakter für die Malerei verliert, avanciert sie gleichzeitig zum Fetisch einer bürgerlichen Kunstanschauung. Dabei verlagert sich die Aufmerksamkeit vom malerischen Können Leonardos, das für Raffael und Corot sowie für Vasari im Zentrum stand, auf die geheimnisvolle Wirkung, die das Gemälde auf den Betrachter ausübt. Mona Lisa wird zu einer Hieroglyphe, die nicht einfach als ein herausragendes Stück Malerei bewundert sein will, sondern deren Rätsel es zu entziffern gilt. Die literarische Rezeption des Gemäldes, vor allem in den einflußreichen Texten Theophile Gautiers (1863) und Walter Paters (1873), erkennt in der Mona Lisa die Gestalt des Ewigweiblichen, sieht sie als Verkörperung der femme fatale. Mit der Hinwendung zum Mysterium der Dargestellten geht ein verstärktes Interesse für ihren genialen Schöpfer und für die Bande, die die beiden verknüpft haben mochten, einher. Eine der bekanntesten Deutungen gibt Sigmund Freud, der in seiner Schrift Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910) das Verhältnis von Leonardo zu seinem Modell im Rahmen der Theorie des Ödipuskomplexes untersucht. Das Lächeln der Lisa del Giocondo habe in Leonardos Seele die Erinnerung an das Lächeln seiner Mutter wachgerufen, so daß das Bildnis der Mona Lisa letztlich als das Erinnerungsbild (als die »Reproduktion«, wie Freud sagt) der Mutter Leonardos, Caterina, anzusehen sei.
Durchschlagend berühmt wird Mona Lisa jedoch nicht durch diese literarischen und psychoanalytischen Schriften, sondern durch ihre plötzliche Abwesenheit. Am 22. August 1911 ist das Gemälde aus dem Louvre verschwunden. Der Skandal ist groß, vor dem sogleich geschlossenen Museum findet sich mehrere Tage lang eine aufgeregte Menge ein, die den Diebstahl und die Sorglosigkeit der Museumsleitung verhandelt. Die Zeitungen, in denen das Thema alles andere in den Hintergrund drängt, veröffentlichen verschiedene, teilweise kühne Theorien des Diebstahls. In der nationalistischen Erhitzung der Vorkriegszeit wird sogar die Regierung des Deutschen Reichs als Drahtzieher des Raubs verdächtigt, und was mit der Mona Lisa beginne, so steigern sich die Befürchtungen, ende gewiß mit dem Verlust sämtlicher Kolonien. In Deutschland kontert man mit der Behauptung, Frankreich habe den Diebstahl nur vorgetäuscht, um die Öffentlichkeit von den Bestrebungen abzulenken, den Kongo dem eigenen Kolonialreich einzuverleiben. Der französische Erziehungsminister bricht seinen Urlaub ab, um mit dem Ministerpräsidenten und dem Justizminister die Folgerungen und Maßnahmen zu besprechen. Der Direktor des Louvre, der unglücklicherweise behauptete, die Mona Lisa sei so sicher wie die Türme der Notre Dame, wird entlassen. Als das Museum nach einer Woche seine Tore wieder öffnet, strömen Unzählige in den Salon Carre, um die leere Wand zu betrachten. Die meisten von ihnen betreten, wie eine Befragung ergibt, den Louvre zum ersten Mal, haben also das Gemälde, dessen Fehlen sie nun bestaunen, nie gesehen. Als Wochen ohne Hinweis auf den Verbleib des Bildes vergehen, weicht der Schock der Witzelei. Die Nippes- und Souvenirindustrie floriert, und auch die Pariser Vergnügungswelt bemächtigt sich des Vorfalls. Kabarett-Szenen mit Mona Lisa werden gespielt, Gioconda-Walzer getanzt, ein Karnevalswagen umhergezogen, auf dem das Gemälde eine Flugreise unternimmt.
Mehr als zwei Jahre nach dem Raub, als die Hoffnung auf eine Wiederkehr des Bildes längst geschwunden ist, spricht ein Herr, der sich anspielungsreich Leonardo Vincenzo nennt, bei einem Florentiner Kunsthändler vor und bietet ihm die Mona Lisa zum Kauf an, allerdings unter der Bedingung, sie müsse fortan in den Uffizien verbleiben und dürfe nie wieder nach Frankreich zurückkehren. Doch der offenbar reichlich naive Dieb wird rasch gefaßt und das Bildnis sichergestellt. Erneut erscheint Mona Lisa in den Zeitungen ganz Europas. Der Polizei gibt der Dieb zu Protokoll, er habe das (wie er meint) von Napoleon geraubte Bild wieder in die Heimat zurückbringen wollen. Die Behauptung trägt ihm die Unterstützung italienischer Nationalisten ein, die eine Verkürzung seiner Strafe auf die Hälfte durchsetzen. Nach Schaustellungen in Florenz, Rom und Mailand – wo während der beiden Ausstellungstage 60.000 Neugierige um einen letzten Anblick des Bildes kämpfen – kehrt Mona Lisa am 4. Januar 1914 in einem triumphalen Zug an ihren Platz im Louvre zurück.
Diese zweijährige »Reise« nimmt manches vorweg, das sich ein halbes Jahrhundert später in den USA ereignen sollte. In beiden Fällen hat die der Mona Lisa geschenkte Aufmerksamkeit nur sehr wenig mit dem Gemälde als solchem zu tun, und wohl gerade deswegen rückt die Mona Lisa sowohl hier wie dort schlagartig ins Bewußtsein auch derjenigen Öffentlichkeit, die sich gewöhnlich nicht für Kunst interessiert.
Auf diese völlig gewandelten Rezeptionsverhältnisse reagieren Malewitsch und Duchamp in jeweils eigener Weise. Malewitsch zitiert das Bild als Paradigma für den Kunstgeschmack der Bourgeoisie und ihrer Fetischisierung genialer Malerindividuen und Meisterwerke. In Komposition mit Mona Lisa (Abb. 6) bringt Malewitsch in programmatischer Weise seine Ablehnung zum Ausdruck, die er diesem Umgang mit der Kunst (und letztlich der bürgerlichen Kultur überhaupt) entgegenbringt. Er fügt seinem Bild eine beschnittene und zerschlissene Reproduktion der Mona Lisa ein, streicht sie mit roter Farbe doppelt durch und überklebt sie mit einem Inseratenschnipsel, auf dem die Worte »Wohnung zu vermieten« zu lesen sind. Mona Lisa, das Kultobjekt der traditionellen (und damit auch gegenständlichen) Kunstauffassung, steht verloren zwischen den monochromen geometrischen Formen, aus denen Malewitsch von nun an seine Werke komponieren wird. Sie wird gestrichen und ihr Platz (ihre »Wohnung«) für Zukünftiges frei erklärt. So veranschaulicht Komposition mit Mona Lisa nicht allein die Überwindung der traditionellen Malerei, sondern gleichzeitig die Ersetzung durch die revolutionäre Kunst des Suprematismus. In seinem Buch »Die gegenstandslose Welt« (1927) schreibt Malewitsch:
»Die Kunst der Vergangenheit, die (zum mindesten nach außen hin) im Dienste der Religion und des Staates stand, soll in der reinen (unangewandten) Kunst des Suprematismus zu einem neuen Leben erwachen und eine neue Welt – die Welt der Empfindung – aufbauen. […] Mir scheint, daß die Malerei Raffaels, Rubens, Rembrandts usw. für die Kritik und die Gesellschaft nichts als eine Konkretion von unzähligen »Dingen« geworden ist, die den eigentlichen Wert – die veranlassende Empfindung – unsichtbar macht.«
Duchamps Verwendung der Mona Lisa (Abb. 7) gleicht derjenigen Malewitschs in mancher Hinsicht. Auch er verwendet eine billige Reproduktion des Gemäldes, um sie in bilderstürmerischer Absicht zu manipulieren. Seine Eingriffe, das Beifügen eines Schnurr- und Kinnbartes sowie des Bildtitels L. H. O.O:. Q. , bezeichnet er denn auch als »ikonoklastischen Dadaismus«. Duchamps Attacke gilt insbesondere dem Genie- und Schöpferkult um Leonardo, der im Entstehungsjahr von L. H. O.O. Q. aufgrund des 400. Todestages des Künstlers einen neuen Höhepunkt erlebt. Seine respektlosen Hinzufügungen mokieren sich über die devote Haltung des Kunstliebhabers gegenüber dem Meisterwerk. Zugleich eignet er sich Leonardos Leistung als bloße Vorleistung zu seinem eigenen Werk an: seine Signatur findet sich nicht dort, wo sie eigentlich zu erwarten wäre, nämlich am Rand des Blattes unterhalb des hinzugefügten Titels, sondern auf der Reproduktion der Mona Lisa selbst. Indem Duchamp zeigt, wie die gemessen an Leonardos malerischem Können mageren und dürftigen Striche den »Leonardo« zu einem »Duchamp« zu machen vermögen, führt er die künstlerische Leistung als etwas vor, das nicht allein mit handwerklicher Arbeit zu tun hat, sondern ebensosehr mit geistigen, konzeptuellen Prozessen. Wie bereits Malewitsch ein paar Jahre zuvor wählt also auch Duchamp das Bild der Mona Lisa, um den eigenen, gegen die herrschende Auffassung gerichteten Kunstbegriff exemplarisch darzulegen.
Mit dem Schnurr- und Kinnbart sowie vor allem mit dem neuen Titel L.H.O.O.Q. den man laut Duchamps eigener Anweisung phonetisch als »Elle a chaud au cul« [»Ihr ist heiß am Arsch«] zu lesen hat, wird eine weitere Ebene ins Spiel gebracht: der androgyne Charakter der Porträtierten sowie die Homosexualität Leonardos. In einem Interview äußert sich Duchamp folgendermaßen:
»Freuds Gesichtspunkt [in dessen Schrift Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, M. L.] war, Leonardos Homosexualität zu zeigen, ohne damit sagen zu wollen, daß er notwendigerweise ein praktizierender Homosexueller war, jedoch – soweit das die medizinische Wissenschaft bestimmen kann – die charakteristischen Züge eines solchen an den Tag legte. Das Seltsame an diesem Schnurr- und Kinnbart ist, daß wenn man die ›Mona Lisa‹ ansieht, sie ein Mann wird. Sie ist keine als Mann verkleidete Frau; sie ist ein richtiger Mann, und das war meine Entdeckung… «
Mit diesen Überlegungen (die die Argumentation Freuds erheblich verkürzen) reagiert Duchamp auf die erotisch gefärbte Auffassung des Fin-de-siecle mit ihrer Stilisierung der Mona Lisa zur mysteriösen, triebhaft-sinnlichen femme fatale. Auch mit diesen Vorstellungen treibt Duchamp seinen »dadaistischen Ikonoklasmus«. Indem er sie zur (homosexuellen) Obszönität des »Elle a chaud au cul« steigert, setzt er sich nicht nur über die Konventionen bürgerlicher Wohlanständigkeit hinweg, die die erotischen Assoziationen zur Mona Lisa bislang zu zügeln vermochten; die im Gefolge von Gautier und Pater aufs »Ewigweibliche« gerichteten Phantasien erklärt er überdies zu Ausschweifungen, die in Wahrheit homoerotisch sind.
In diesen frühen Beispielen Malewitschs und Duchamps etabliert sich eine Form der Paraphrase, die sich nicht mehr verliert. Schien es ehedem lohnend, das Bild in langer Arbeit nachzumalen, und nobilitierte es das eigene Porträt wie auch die Porträtierte, wenn in ihnen das große Vorbild der Mona Lisa aufschien, so entspringen Malewitschs und Duchamps Unternehmungen weder künstlerischem Lernwillen noch einem Interesse für die Porträtmalerei. Ihr Augenmerk richten sie auf die sekundären Qualitäten des Bildes: auf seine singuläre Berühmtheit und auf die mannigfaltigen Formen des Kultes, der mit ihm und seinem Schöpfer getrieben wird. Sie zitieren es als Chiffre für diesen Kult und verändern es (Duchamp) oder zerstören es gar (Malewitsch), um sich künstlerisch und ideologisch von ihm zu distanzieren. An die Stelle von Leonardo setzen sie sich selbst. In die »zu vermietende Wohnung« Mona Lisas zieht Malewitschs Suprematismus ein, und in L. H. O.O.Q. trägt Mona Lisa die Signatur Marcel Duchamps.
Der schwärmerische, oft pathetische Umgang mit der großen Kunst der Vergangenheit, den das 19. Jahrhundert pflegte, findet in den Jahren um den Ersten Weltkrieg ein Ende, zu dem auch Malewitsch und Duchamp mit ihren künstlerischen Konzepten beigetragen haben. Der Kult um Mona Lisa hingegen endet nicht, sondern weitet sich im Gegenteil gerade jetzt ins Groteske aus. Denn der Bruch mit dem Klischee der schönen, rätselhaften Mona Lisa führt nur eben zur Etablierung eines neuen Klischees: des Klischees des gebrochenen Klischees. Das verändert zwar Mona Lisas Ruhm, steigert ihn jedoch nur. Der Erfolg, der insbesondere Duchamps subversiver Kritzelei beschert war, aber auch der ökonomische wie publizistische Ertrag, den der Diebstahl des Gemäldes 1911 eingebracht hatte, ruft nun all die Künstler, Cartoonisten und Werbegraphiker auf den Plan, die daran anknüpfen wollen. So währt das Klischee bis heute.
Mit dem unüberblickbaren Anschwellen der Variationen und Adaptationen tritt die Rezeption der Mona Lisa in ihre dritte und vorerst letzte Phase. In ihr lösen sich die letzten Zusammenhänge zwischen den jeweiligen Veränderungen und Vereinnahmungen und dem künstlerischen Herkommen der Mona Lisa auf, Zusammenhänge, die bei Malewitsch und Duchamp noch durchaus ersichtlich sind. Denn während eine Verbindung besteht zwischen Malewitschs Thematisierung der Mona Lisa als bourgeoisem Paradeporträt und der frühbürgerlichen Kultur der italienischen Renaissance, der Lisa del Giocondo entstammt, und während Duchamp mit der Hinzufügung eines Schnurrbartes auf Leonardos Gestaltenwelt reagiert, die tatsächlich ausgeprägt androgyne Züge aufweist, finden sich derlei inhaltliche Auseinandersetzungen in den Anzeigen, die zum Beispiel mit Mona Lisa für einen bestimmten Magenbitter oder eine Jeansmarke werben, nicht (Abb. 8 ). Das Werk und seine Nutzung treten völlig auseinander, Mona Lisa steht hier nur mehr für eines: für Weltberühmtheit. Damit aber ist Mona Lisa zugleich auf dem höchsten und auf dem tiefsten Punkt ihres Renommees angelangt, ein Zugleich, das auch bei der Reise Mona Lisas in die Vereinigten Staaten festzustellen war.
Warhols Meta-Paraphrase
Die Adaptationen befolgen letztlich stets das gleiche Vorgehen, um ihren Witz oder ihre Werbebotschaft zu lancieren. Inspiriert durch Mona Lisas Lächeln und analog zu den initialen Eingriffen Malewitschs und Duchamps lassen sie die Figur allerlei anderes tun oder sein. Mehrere Varianten sind möglich, die sich zudem auch kombinieren lassen. Entweder lächelt Mona Lisa nicht mehr ohne ersichtlichen Grund, sondern weil sie das Produkt dieses oder jenes Herstellers konsumiert (Abb. 8 ). Ihr Lächeln kann aber auch durch Lachen, Weinen o.ä. ersetzt werden. Eine dritte Möglichkeit ist, ihr die Züge eines anderen Menschen zu verleihen (Golda Meir, Hans-Dietrich Genscher, Salvador Dali, Josef Stalin), oder umgekehrt jemanden die Züge Mona Lisas tragen zu lassen (George Washington, Mao Tse-Tung [Abb. 101). Schließlich gibt es die Fälle, in denen der Mona Lisa ein unerwarteter Unterkörper hinzugefügt ist: sie sitzt nun im Rollstuhl, hat die Beine von Marlene Dietrich usf. (Abb. 9). Der Phantasie und der Originalität sind keine Grenzen gesetzt, nach dem Sinn der einzelnen Interventionen wird man hingegen meist vergeblich fragen. Doch daß sie sich jeweils noch immer mit dem Lächeln, dem schönen, ikonengleichen Gesicht oder der »wahren Natur« der Mona Lisa beschäftigen, verrät das Bemühen, den Ruhm des Gemäldes nach wie vor in seinen malerischen und konzeptionellen Eigenschaften begründet zu sehen, mit anderen Worten: noch immer eine Brücke zu schlagen zwischen der Produktion Leonardos und der Rezeption in der Öffentlichkeit.
Thirty Are Better Than One unternimmt nichts dergleichen. Warhols Bild beläßt das Gemälde Leonardos, wie es ist, und reproduziert es bloß dreißigfach. Zwar stellt auch Thirty Are Better Than One die Mona Lisa in einen neuen Zusammenhang. Doch es ist ein grundlegend anderer. Er besteht nicht in einem von außen hinzugetragenen, fremden Element (Markenartikel, Tränen, Rollstuhl usf.), sondern besteht nur gerade in den jeweils 29 anderen, identischen Mona Lisas über, neben oder unter ihr. Was sich auf diese Weise in Warhols Paraphrase abspielt, ist nicht die Umwandlung Mona Lisas zu einer neuen Figur oder in eine andere Tätigkeit, sondern das, was all die Umwandlungen voraussetzen und woran sie mittun: die Tatsache der endlosen Wiederholung des Gemäldes selbst. Thirty Are Better Than One ist eine Meta-Paraphrase, die nicht von neuem in das Gemälde eingreift, sondern über Mona Lisa im Lichte all ihrer Paraphrasen spricht. Sie geht von einem Außergewöhnlichen der Mona Lisa aus, das längst nicht mehr in ihrem Lächeln oder in der Beziehung zu ihrem Schöpfer Leonardo besteht, sondern in einem Ruhm, wie er in dieser Form nur im Zeitalter der Massenreproduktion und -kommunikation auftreten kann. Das Einzigartige der Mona Lisa liegt im Vermögen, in den endlosen Wiederholungen zwar allmählich jegliche Identität eingebüßt zu haben, d. h. alles abgestreift zu haben, was ihre künstlerischen Eigenschaften und ihr Herkommen betrifft, aber deswegen nicht etwa in die Belanglosigkeit abgesunken zu sein, sondern gerade dadurch den Olymp absoluten (wörtlich: von allem losgelösten) Ruhms erreicht zu haben.