Andy Warhol Benjamin Reproduzierbarkeit Aura Last Supper

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Andy Warhol. Thirty Are Better Than One

Frankfurt/M. 1995 (Reihe Kunst-Monographien d. Insel-Verlags)

Kapitel IV: Die reproduzierte Mona Lisa

Warhols Paraphrase handelt nun nicht allein von dem eigentümlichen Status von Gemälde und Person der Mona Lisa. Thirty Are Better Than One thematisiert, indem es eine dreißigfach reproduzierte Mona Lisa vor Augen stellt, zugleich die Tatsache sowie die Konsequenzen der Reproduzierbarkeit des Originals.
In seinem grundlegenden Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935/39) hat Walter Benjamin die Umwälzungen analysiert, die die Möglichkeit der Reproduktion für den Begriff der Kunst sowie für den Umgang mit der Kunst bedeuten. Aus dem vielschichtigen Ganzen seines Textes hat die These, daß das Kunstwerk aufgrund der Reproduzierbarkeit seine Aura verliere, besondere Beachtung gefunden. Sie ist zum vielgenannten Stichwort der Kunst- und Kulturkritik geworden. Auch in der Diskussion um Warhol spielt diese These, manchmal explizit, stets jedoch implizit, eine große Rolle. Tatsächlich wirft Warhols reproduktives Bildverfahren die Frage des Verhältnisses von Original und Reproduktion unmittelbar auf. Thirty Are Better Than One fügt dem reproduktiven Verfahren gleich noch die Thematik eines reproduzierten Kunstwerks hinzu. Warhols Bild ist gleichsam eine Illustration zu Benjamins Text, umgekehrt könnte der Titel von Benjamins Aufsatz der Untertitel zu Warhols Paraphrase sein.
Benjamins These vom Auraverlust ist jedoch sowohl an sich wie auch in der »Anwendung« auf Warhol sorgfältig zu betrachten. Eine vorschnelle Anwendung führt in die Irre. Das liegt zunächst an Benjamins Text selbst. Dieser schwankt zwischen rückwärts blickender Trauer und emanzipatorischer Zuversicht – eine Ambivalenz, die sich bei der These vom Auraverlust selbst zeigt. Spricht Benjamin vom »Verfall« und vom »Verkümmern der Aura«, eröffnet er eine Verlustrechnung. So vergleicht er die Aura mit dem Blick eines Menschen, der den unseren erwidert: »Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.« Das reproduzierte, seiner Aura beraubte Kunstwerk erscheint deshalb wie ein »blickloses Auge«, in dem »das Schöne keine Stelle hat«. Da das auralose Kunstwerk unseren Blick nicht erwidert, kann ihm auch nicht länger eine »aufmerksame«, sondern nur eine »zerstreute Wahrnehmung« entsprechen. Denselben Umbruch wendet Benjamin jedoch ins Positive, wenn er den Verlust der Aura an anderer Stelle als »Befreiung des Objekts von der Aura« beschreibt. Diese Befreiung ist für Benjamin notwendig, damit das Kunstwerk zur politischen Waffe umgeformt werden kann. Der Standpunkt, den Benjamin gegenüber diesen so zwiespältig beschriebenen Umwälzungen selbst einnimmt, bleibt offen. Er ist, wie Theodor W. Adorno bemerkt, »ausgespart«.
Dieselbe Ambivalenz weisen nun auch die Schlußfolgerungen auf, wenn Benjamins These auf Warhols Bilder übertragen wird. Marxistisch argumentierende Kunsthistoriker sehen in Warhols Bildverfahren, das aufgrund seiner reproduktiven Technik die Kunst »von der Aura befreit«, die kritische Destruktion der bürgerlich-kapitalistischen, auf die Autonomie des Werks ausgerichteten Kunstpraxis. Sie übernehmen damit die politische, auf die Emanzipation des Subjekts zielende Ausrichtung von Benjamins Text. Die konservative Kunstkritik hingegen begreift die »leeren, blicklosen« Bilder als Beweis eines zynischen, nihilistischen Bewußtseins. Sie lesen Warhols »Kunst« als Symptom des kulturellen Verfalls. Wenn diese Wertungen nicht nur eindimensional erscheinen, sondern vor allem die in den Bildern aufgeworfenen Probleme erheblich verkürzen, so ist dies eine Tendenz, von der auch Benjamins Text nicht frei ist, spielt Benjamin doch ein »rückständigstes Verhalten zur Kunst, z. B. einem Picasso gegenüber«, gegen ein »fortschrittlichstes, z. B. angesichts eines Chaplin«, aus.
Doch das Übertragungsproblem zeigt sich nicht nur im Gegensatz der Wertungen. Es besteht auch deswegen, weil Warhols Bilder den Gegensatz von auratischem Original und auraloser Reproduktion, den Benjamin zur Grundlage seiner Argumentation macht, unterlaufen: sie scheinen beides zugleich zu sein. Offensichtlich reicht die bloße Tatsache, daß Warhol reproduktive Techniken verwendet, als Bewertungsgrundlage für seine Bilder nicht aus.

Walter Benjamins These vom Verlust der Aura

Um hier klarer zu sehen, ist es sinnvoll, zunächst einen Schritt zurückzugehen und Benjamins These des Auraverlustes genauer zu betrachten. Das bedingt in erster Linie, sie aus ihrer Isolation, in die sie durch die Rezeption geraten ist, zu lösen und sie im Zusammenhang der Argumentation zu sehen. In seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit schreibt Benjamin also:
»Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet. … Durch diesen Vorgang [wird] am Gegenstande der Kunst ein empfindlichster Kern berührt … Das ist seine Echtheit. Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. … So gerät in der Reproduktion, wo die erstere [die Echtheit, M. L.] sich dem Menschen entzogen hat, auch die letztere: die geschichtliche Zeugenschaft der Sache ins Wanken. … Was aber dergestalt ins Wanken gerät, das ist die Autorität der Sache. Man kann, was hier ausfällt, im Begriff der Aura zusammenfassen und sagen: was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit verkümmert, das ist seine Aura. … Und indem sie [die Reproduzierbarkeit, M. L.] der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte. Diese beiden Prozesse führen zu einer gewaltigen Erschütterung … der Tradition. …
Die ursprüngliche Art der Einbettung des Kunstwerks in den Traditionszusammenhang fand ihren Ausdruck im Kult. … Es ist nun von entscheidender Bedeutung, daß diese auratische Daseinsweise des Kunstwerks niemals durchaus von seiner Ritualfunktion sich löst. Die Definition der Aura als »einmalige Erscheinung in der Ferne, so nah sie sein mag«, stellt nichts anderes dar als die Formulierung des Kultwerts des Kunstwerks in Kategorien der raum-zeitlichen Wahrnehmung. … Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare. In der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität des Kultbildes. … Diese Zusammenhänge zu ihrem Recht kommen zu lassen, … bereiten die Einsicht, die hier entscheidend ist, vor: die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks emanzipiert dieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual. Das reproduzierte Kunstwerk wird in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks. Von der photographischen Platte z. B. ist eine Vielheit von Abzügen möglich; die Frage nach dem echten Abzug hat keinen Sinn. In dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle der Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik.«
Prüft man Benjamins Argumentation anhand des Falles der Mona Lisa – als das meistreproduzierte Kunstwerk der beste Prüfstein -, dann erweist sich die Argumentation als nur teilweise zutreffend. Durch die Reproduzierbarkeit ist weder »die Autorität« des Originals »ins Wanken geraten«, noch hat es sich »von seinem parasitären Dasein am Ritual emanzipiert«. Das Gegenteil scheint der Fall. Seit die Mona Lisa in ihren Reproduktionen »dem Aufnehmenden entgegen kommt«, reißt der Strom derjenigen, die nun ihrerseits das Original aufsuchen, nicht mehr ab. Das »Entgegenkommen« der Reproduktionen verhindert nicht einmal, daß die Mona Lisa »den Aufnehmenden« gleich selbst »entgegenkommt«: 1963 wie beschrieben nach Washington und New York, 1974, auf einer zweiten Reise, nach Tokio und Moskau. Die Reproduktionen waren die bloßen Vorboten des OriginaIs.Vor allem aber trägt das Geschehen, das sich hier abspielt, wenn die teilweise von weither gekommenen Menschen stundenlang ausharren, um nur eben einen Blick des Originals erhaschen zu können, tatsächlich die Züge des »Kultes« und des »Rituals«. Es gleicht einer Wallfahrt, bei der die Nähe zum Heiligen jede Mühe des Weges und des Wartens lohnt. Aufschlußreich ist auch ein paradoxes Verhalten, das so mancher Besucher der Mona Lisa an den Tag legt. Obschon er nun endlich dem Original gegenübersteht, bewaffnet er sogleich sein Auge mit der Kamera und fertigt eine weitere Reproduktion des Bildes an. Der einzige Sinn dieser eigenhändigen Reproduktion, die nicht nur völlig redundant, sondern auch wesentlich schlechter als jeder käufliche Kunstdruck ist, besteht im Vermögen, die persönliche Anwesenheit, das eigene »Hier und Jetzt« vor dem Original, zu dokumentieren. Sie ist gleichsam das gesegnete Heiligenbildchen, das er vom Wallfahrtsort nach Hause trägt.
Dem rituellen Umgang mit dem Bild entspricht schließlich auch die Hängung, wie sie in Washington und New York, in Tokio und Moskau vorgenommen wird: für die eigentliche Betrachtung zu fern und zu hoch, hinter schwerem Panzerglas, zudem stets flankiert von zwei Wächtern. Im Louvre ist das Gemälde, bei eigenen Abmessungen von 77 cm x 53 cm, mittlerweile in eine Kastenvitrine von 300 cm x 230 cm x 50 cm eingeschlossen, die Oberkante der Tafel befindet sich ca. 270 cm über dem Boden, eine Sicherheitsdistanz von mehr als zwei Metern darf nicht unterschritten werden. Die Mona Lisa ist, bereits was die äußeren Bedingungen der Wahrnehmung betrifft, durch eine »Unnahbarkeit« ausgezeichnet, die Benjamin als »eine Hauptqualität des Kultbildes« definiert. Auraverlust durch technische Reproduzierbarkeit?
Benjamins Analyse ist vor allem deswegen korrekturbedürftig, weil sie zwei grundlegend verschiedene Dinge unter demselben argumentativen Horizont betrachtet: zum einen die Reproduktionen eines Kunstwerks, z. B. der Mona Lisa, und zum anderen die Kunstwerke, die bereits in reproduktiver Technik gefertigt sind, nämlich Photographie und Film. In Bezug auf letztere ist die Bemerkung Benjamins, bei ihnen »versage« der an die Kunstproduktion üblicherweise angelegte »Maßstab der Echtheit«, tatsächlich zutreffend. Das ist nicht nur deshalb so, weil die photographische Platte, von der die einzelnen Abzüge gemacht werden, kaum als Original bezeichnet werden kann. Vor allem existiert das »Echte« – die Realität, die der Photographie oder dem Film zugrundeliegt – nur noch im Dokument des photographischen bzw. filmischen Bildes. Die Rückkehr zu ihm ist unmöglich, denn das, was das Filmbild oder die Photographie zeigen, ist ein vergangener, unwiederbringlicher Augenblick. Doch bei der Reproduktion eines Kunstwerks hat der »Maßstab der Echtheit« allerdings einen Sinn. Das Original ist auch nach dem Anfertigen einer Reproduktion unverändert da. Es kann, als das »Echte«, nach wie vor aufgesucht und angeschaut werden. Jede photographische Reproduktion eines Kunstwerks macht damit offenbar, lediglich der Abkomme eines Originals zu sein und dieses bloß zu vertreten. Entsprechend macht Benjamin auch keinen Unterschied zwischen der Betrachtung eines Films bzw. einer Photographie und der Betrachtung der Reproduktion eines Kunstwerks. Daß »die Reproduktion das Reproduzierte aktualisiere«, gilt zweifellos für die Photographie und den Film, deren inzwischen vergangener Bildgegenstand seine »Aktualität« nur mehr auf diese Weise entfalten kann. Doch was die Reproduktion eines Kunstwerks »aktualisiert«, ist etwas anderes, komplexeres. Es ist zugleich das Erkennen des Originals (z. B. der Mona Lisa) wie auch das Erkennen der Differenz zum Original. Was für den Abzug einer Photographie und eines Films nie zutrifft, ist damit für die Reproduktion eines Kunstwerks gerade konstitutiv: in erster Linie das Dokument eines »Echten« zu sein, das zwar abwesend ist, dennoch aber als solches existiert. Diese Dialektik der Reproduktion bestimmt den scheinbar paradoxen Umgang mit der Mona Lisa. Denn nur so kann es geschehen, daß die Allgegenwart der Reproduktionen das Verlangen, das »Hier und Jetzt« des Originals zu erfahren, nicht etwa aufhebt, sondern im Gegenteil noch zu steigern (oder überhaupt erst zu provozieren) vermag. Jede Reproduktion, die als Stellvertreterin das Original aufruft, gießt weiteres Wasser auf die Ruhmesmühle und hält sie in Gang.
In anderer Hinsicht jedoch ist Benjamins Analyse völlig zutreffend. Das betrifft seine Beschreibung, wie das Kunstwerk durch die Reproduzierbarkeit aus der »Einbettung in den Traditionszusammenhang« herausgelöst wird. In der Tat haben die Reproduktionen, die Mona Lisa dem Getriebe der Massenkultur unterwarfen, »das von Ursprung her an ihr Tradierbare«, ihre »geschichtliche Zeugenschaft«, aufgehoben. Wenn Leonardos Bildnis nach wie vor ein auratisches Kunstwerk und vielleicht mehr denn je ein Kultobjekt ist, so ist seine Aura mittlerweile doch ganz anders bestimmt, als Benjamin sie definiert. Bei Benjamin ist »Einzigkeit« und »Tradition«, »Autorität« und »Geschichte« noch selbstverständlich verknüpft. Diese Verknüpfung ist aufgehoben. Der Reproduktionsprozeß, der Mona Lisas »neue Aura« der »Einzigkeit« und »Autorität« absoluten Ruhms hervorbringt, liquidiert gleichzeitig ihre »alte Aura« der »Tradition« und der »Geschichte«.

Die Verschlingung von Original und Reproduktion

Diese anhand von Benjamin gewonnenen Differenzierungen sind für Thirty Are Better Than One von entscheidender Bedeutung. Es ist festgestellt worden, daß Warhols Siebdrucke die malerische Feinheit und Komplexität des Originals auf eine Schablone aus Schwarz und Weiß reduzieren. Sie treiben die Differenz zwischen Reproduktion und Original bis zur Grenze, an der von Leonardos Werk nur mehr die schiere Wiedererkennbarkeit (»das ist Mona Lisa«) übrigbleibt. Auf diese Weise aber bringt Warhol das Verhältnis von Original und Reproduktion auf den Punkt. Denn der Ruhm und die Größe der Mona Lisa ermißt sich daran, daß sie nicht erst einer genauen Würdigung unterzogen werden muß, um in ihrer Einzigartigkeit erfaßt zu werden. Nur gerade das Erkennen des Gemäldes als solches muß gewährleistet sein, und dafür reicht selbst die ungefährste visuelle Spur. Damit erweisen sich Warhols Siebdrucke der »heutigen« Mona Lisa sogar angemessener als die sorgfältigen Kunstdrucke, die den malerischen Qualitäten des Originals gerecht zu werden versuchen. Nur was augenblicklich wiedererkannt wird, ist wirklich berühmt. Und nur was wirklich berühmt ist, vermag sich selbst in der miserabelsten Reproduktion zu »aktualisieren«. Warhols Siebdrucke folgen dieser Logik massenkommunikativen Ruhms: weniger ist mehr. Der Dialektik der Reproduktion entspricht hingegen auch Warhols serielle, dreißigfache Wiederholung des Drucks. Denn es gehört zu derselben Logik, daß je öfter etwas zu sehen ist, desto bedeutender es sein muß. Nur was endlos wiederholt wird, ist wirklich groß. So folgt Warhols Paraphrase auch dieser Logik: mehr ist mehr.
Die unlösbare Verschlingung von Original und Reproduktion erfährt schließlich derjenige, der die Mona Lisa in ihrem »Hier und Jetzt« aufzusuchen unternimmt. Im Louvre wird er nicht viel mehr sehen als das, was er als inneres Bild der Mona Lisa in sich trägt, ein Bild, das viel lebendiger und facettenreicher ist als die Tafel an der Museumswand. Das Original wird meist als Enttäuschung erfahren: man hat es sich bedeutender vorgestellt. Die Enttäuschung erfolgt, weil die Einzigartigkeit der Mona Lisa, die in der universalen Präsenz im Gedächtnis der Menschen besteht, dem Original selber gar nicht abgelesen werden kann. Ein zweites kommt hinzu. Die bereits vorhandene und mitgebrachte Kenntnis des Bildes, das Vor-Wissen, ermöglicht zwar das augenblickliche Wiedererkennen, verunmöglicht hingegen, das Bild als solches überhaupt noch zu sehen. Die Reproduktionen haben einen »Schlamm der Gewohnheit« ausgebildet, der die Wahrnehmung »mit einer undurchdringlichen Schicht bedeckt« (Samuel Beckett). Der Weg zum Original endet in diesem sedimentierten »Schlamm«, und es ist dieser »Schlamm«, in dem sich jeglicher »Traditionszusammenhang« (Benjamin) verliert. So ist die Mona Lisa nicht nur aus objektiven Gründen (aufgrund der Art und Weise der musealen Präsentation) nicht mehr zu sehen, sondern ebensosehr aus subjektiven Gründen. Das Panzerglas, hinter dem das Bild verschwunden ist, ist außerdem »schlammbedeckt«.

Eine zweite Leonardo-Paraphrase

Eine weitere Serie von Leonardo-Paraphrasen, die ab 1985 als eine der letzten Werkgruppen entsteht, gilt diesmal dem Wandbild des Abendmahls, das sich im Refektorium von S. Maria delle Grazie in Mailand befindet (Abb. 15). Warhols Ausgangspunkt für die in verschiedener Technik gearbeiteten Bilder sind: eine dreidimensionale Kitschversion von Leonardos Abendmahl, die ihrerseits die Kopie einer dreidimensionalen Version aus dem 19. Jahrhundert ist; die Reproduktion einer klassizistischen Kopie des Gemäldes, die ebenfalls dem 19. Jahrhundert entstammt; und schließlich eine in einem kunsthistorischen Überblickswerk publizierte schematische Liniennachzeichnung. Diese Quellen unterwirft Warhol den üblichen Transformationen, sie werden abgelichtet, vergrößert, zum Drucksieb umgewandelt usw., außerdem in einigen Fällen (wie in Abb. 15) nachgemalt. Was aber paraphrasieren die Last Suppers? Geht man von einem dieser Bilder den Weg zurück zu dem, was am Ursprung der Paraphrase stand, so findet man sich vor Bildern bzw. vor einem Objekt wieder, die sich in allem: in ihrem Medium, ihrer Entstehungszeit, ihrem Stil und ihrer Gattung, vom originalen Wandbild im Refektorium von S. Maria delle Grazie unterscheiden. Leonardos Original hingegen kommt nicht in den Blick, so wie es denn im Prozeß von Warhols Bildherstellung auch keine Rolle gespielt hat. Das Original ist der blinde Fleck der Last Suppers.
Doch bemerkenswerterweise scheint das gar kein Mangel zu sein, sondern gerade in der Abgehobenheit von Leonardos Original der Sinn und die Qualität von Warhols Paraphrase zu liegen. Denn Warhols Last Suppers künden nicht nur vom Verschwinden eines Bildes, sondern vor allem von seinem Beharrungsvermögen, seiner Persistenz. Warhol braucht nur einen Splitter von Leonardos Wandbild zu präsentieren, er mag es durch noch so viele Filter und Masken hindurch tun, ja er kann sogar überhaupt nur von solchen Masken sprechen – die Spur, die sich von Leonardos Bild erhält, genügt, um das Original aufzurufen und die Dialektik der Reproduktion in Gang zu setzen. Doch was dasjenige ist, das man in dieser Flucht der Repliken wiedererkennt, bleibt dunkel, ist jedenfalls durch die Antwort, es sei Leonardos Wandbild in S. Maria delle Grazie, gerade nicht geklärt. Warhols Last Suppers sind die visuelle Metapher eines Bildes in Latenz.
Als man von Warhol den Grund seiner Abendmahl-Paraphrasen wissen wollte, gab er zur Antwort: Because Iolas asked me to do the Last Supper. He got a gallery in front of the other Last Supper.« [»Weil Iolas mich bat, das Abendmahl zu machen. Er hat eine Galerie gegenüber dem anderen Abendmah1.«] Mit dem »Abendmahl« meinte Warhol seine Paraphrase. Mit dem »anderen Abendmahl« hingegen meinte er Leonardos Wandbild. Es sind dieselbe Gleichstellung und Vermengung des Verschiedenen, die auch Thirty Are Better Than One prägen. Denn es bleibt unentscheidbar, wofür hier eigentlich »Thirty« beziehungsweise »One« stehen: für Originale, für Reproduktionen, für die Mona Lisa selbst?
Und dennoch ist der Verweis auf das Original das unabdingbare Fundament der Last Suppers wie der Mona Lisas. Denn so wie die konstruierten Images eines Stars nur deswegen unser Interesse zu fesseln vermögen, weil sie immer auch das Abbild eines wirklichen, lebenden Menschen sind, so ziehen die Phantasmagorien des Abendmahls und der Mona Lisa, diese Sedimente endloser Reproduktion, ihre Kraft daraus, sich als Abkommen eines zwar mythisierten, aber dennoch tatsächlich existierenden Originals auszuweisen, das aus der Ferne in ihnen aufscheint.

Einleitung
Kapitel I: Der Anlaß
Kapitel II: Die Vorläufer
Kapitel III: Die Einordnung
punkt Kapitel IV: Die reproduzierte Mona Lisa
Andy Warhol - thirty are better tahn one - Pfeil Kapitel V: Pictorial Design
Kapitel VI: Das Dilemma des Malens
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