Alberto Giacometti Zeichnungen Porträt Ästhetik

Giacometti Matisse als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 966 KB)

Asymmetrie von Blick und Hand: Ein Nachwort zur künstlerisch-existenziellen Konstellation in Giacomettis Matisse-Zeichnungen

in: Cresceno, Casimiro di: Im Hotel Régina. Albert Giacometti vor Matisse. Letzte Bildnisse, Fondation Giacometti Paris, Bern/Wien 2015

Kapitel II

Diese besonderen Aspekte der Matisse-Porträts seien aber zunächst zurückgestellt und das Exemplarische in den Blick gerückt. Von Matisse sollte, so die Absicht des französischen Staates und seiner Münzprägestätte, eine Medaille zu seinen Ehren geprägt werden. Doch Matisse verwarf das Verfahren klassischer Bildniskunst, das sich in der Beauftragung eines akademischen Porträtisten manifestierte, und bestimmte mit Giacometti als Auftragnehmer einen Künstler, der seinem Gegenüber keine überzeitliche bildliche Dauer verlieh, sondern den Bildnissen die Temporalität und Prozessualität eines Erscheinens – der Porträtierten wie auch der Bildnisse selbst – mit einzeichnete. Giacomettis Obsession, sich bei den Porträtierten hauptsächlich auf deren Kopf zu konzentrieren, kam dem Auftrag entgegen, da es genau darum ging: um die Verfertigung eines gemünzten Reliefkopfs, den Giacometti in diesen Zeichnungen vorbereitete. Tatsächlich zeigt über ein Duzend von ihnen lediglich die Kopf- und Schulterpartie, und mehr als die Hälfte hiervon nur einen isolierten Kopf oder auch nur einen Teil desselben.

Damit ergänzen sich hier zwei künstlerische Grundüberzeugungen Giacomettis. Zum einen erkannte er in der Zeichnung die Basis all seiner künstlerischen Bemühungen, die gesehene Wirklichkeit zu erfassen. Zum anderen sah er im menschlichen Kopf die größte Herausforderung seiner Kunst. Mehrere motivische und bildplastische Fragen, die ihn vor allem in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens umtrieben, kulminieren im Phänomen des menschlichen Kopfes: die Frage nach dem Anderen als einem Gegenüber, das sich allein schon deshalb fortwährend entzieht, weil es ein Innen aufweist, das sich nur in kurz aufblitzenden Momenten preisgibt; die Frage nach der Lebendigkeit dieses Gegenübers, die es in die ästhetische Lebendigkeit des eigenen Kunstwerks zu übersetzen gilt; des Weiteren die Frage nach der Plastizität als einem abgegrenzten Volumen im Raum; und schließlich die Frage nach dem Blick, der den Abgrund, den Giacometti zwischen sich und seinem Gegenüber spürte, sowohl überbrückt als auch auf neue Weise spürbar werden lässt. Kurz: Im menschlichen Kopf verdichteten sich für Giacometti die Aspekte der Alterität, der Lebendigkeit und des spezifischen Volumens im Raum zu einem einzigen Formproblem. Die Besonderheit von Giacomettis Zeichnungen liegt allerdings darin, keinen dieser Aspekte, die es am Gegenüber zu erfassen galt, auf Kosten der übrigen zu privilegieren – sei es, den Anderen in erster Linie als ein sinnlich-plastisches Ereignis aufzufassen, sei es, in ihm vor allem eine unzugängliche Subjektivität zu erkennen. Wie sehr all dies bildplastisch miteinander verschränkt ist, zeigt sich etwa daran, dass die Kugelform des Kopfes bei Giacometti so wirkt, als sei sie noch am ehesten in der Lage, dem ungreifbaren Druck des Raums zu widerstehen, und es dennoch so scheint – auch im Falle des Kopfes von Matisse –, als verforme sich der Kopf unter diesem Druck. Zugleich lässt sich beobachten, wie das Volumen des Kopfes aufgrund seiner Kugelform zwar auf alle Seiten hin orientiert erscheint, der Blick indes dieser Kugel eine Ausrichtung verleiht – eine Ausrichtung, die nicht nur anzeigt, worauf die Aufmerksamkeit des Porträtierten sich richtet, sondern die zugleich ein raumplastisches Streben bewirkt, und zwar nicht nur des Gesichtes nach vorne, sondern ebenfalls des Hinterkopfes nach hinten.

In Giacomettis Zeichnungen sind die Formfrage und die Seinsfrage, die Deskription phänomenalen Erscheinens und die unablässige Suche nach der dahinterliegenden Wirklichkeit, gleich ursprünglich. Jede Linie, die Giacometti mit hartem Bleistift und ebenmäßiger Druckverteilung mehr ritzte als zeichnete, ist Formbestimmung und Kraftlinie zugleich, bezeugt einen bestimmten Umriss und zugleich eine von innen nach außen tretende Energie. Wenn diese Linien aber nicht nur die Figur umreißen, sondern auch dazu dienen können, sie mit dem Raum zu verweben – so wie es, den Auftrag der französischen Münze überschreitend, auch in einigen der Zeichnungen Matisse’ geschieht –, dann liegt dies erneut an der Doppelvalenz jeder einzelnen Linie, ebenso sehr Kontur wie Kraftlinie zu sein. Nie werden Figur und Raum durch etwas Drittes – beispielsweise eine koloristische oder ornamentale Verwebung – miteinander verbunden, so wie es für die Kunst Matisse’ kennzeichnend ist. Auch in den Zeichnungen, die Giacometti von Matisse anfertigte, gibt es keine übergeordnete Einheit, die Figur und Raum zusammenschlösse, sondern ausschließlich jene suchenden Striche, anhand derer sich beides, Figur und Raum, in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander allmählich herausschält.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Eigenart Giacomettis, im Erfassen seines Gegenübers die Distanz zum Gesehenen mitzuzeichnen, mit anderen Worten die Größenverminderung, die aufgrund der Entfernung zum sehenden Auge auftritt, gerade nicht auszugleichen, sondern als Verkleinerung der Zeichnung selbst festzuhalten. Die Relation, in der ein Kopf zum umgebenden Raum sowie zum sehenden Auge steht, übersetzte Giacometti in die Größenrelation des gezeichneten Kopfes zum Blattgeviert. Das hat zur Folge, dass die ebenso inselhaft wie komprimiert wirkenden Köpfe Matisse’ auf den großen Blättern keineswegs verloren erscheinen. Vielmehr zeichnet sie, so klein sie auch sind, das Vermögen aus, das Kraftfeld des Blattgevierts in sich zu versammeln. Gerade die Reduziertesten unter ihnen führen die basalen medialen Voraussetzungen des Zeichenaktes vor: dass es dafür nicht mehr braucht als ein markierendes Instrument sowie einen die Markierung aufnehmenden Grund, und weiter: dass eine Zeichnung schon nach einigen wenigen Strichen vollendet sein kann. Allerdings machen gerade sie auch deutlich, dass es ihnen nicht um eine Reflexion auf die Basisoperationen des Zeichnens geht, sondern das Kriterium ihres Gelingens stets darin liegt, inwieweit sie den Kontakt zur gesehenen Wirklichkeit herstellen. Es ist kein Zufall, dass die nur mit wenigen Strichen ausgeführten Zeichnungen häufig das Flüchtigste, aber Intensivste des Gegenübers festhalten wollen: den Blick.

Giacomettis Zweifel, die ihn lebenslang begleiteten, galten nie dem Sein der Wirklichkeit, sondern ausschließlich der Möglichkeit, dieses Sein zu erfassen. Sie galten auch nie der Kunst, die er als einzig aussichtsreiches Mittel begriff, der Wirklichkeit überhaupt habhaft zu werden, indem sie es erlaubt, die Wirklichkeit besser sehen zu lernen. Zweifel plagten Giacometti allein hinsichtlich seines eigenen Vermögens, die Kunst in ebendieser Weise zum Erkenntnismittel machen zu können, mit der Folge, dass er seine »Versuche«, wie er seine Kunst nannte, bis zum letzten Atemzug weiter vorantrieb. Dass seine Zweifel nicht das Sein betrafen, sondern die Möglichkeit, dieses in seinem Erscheinen künstlerisch zu erfassen, erklärt denn auch, warum ihn gerade die Fragen nach dem Volumen und seiner Relation zum Raum unablässig beschäftigten: nämlich als die zwei wesentlichen Aspekte, wie etwas in seinem Sein erscheint. Giacomettis Kunst – und in den Porträtzeichnungen tritt es in verdichteter Form heraus – ist eine radikalisierte Phänomenologie, praktiziert am denkbar komplexesten Objekt: dem menschlichen Gegenüber.

Kapitel I
Alberto Giacometti Kapitel II
Fondation Giacometti Kapitel III
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